Er ist diplomierter Hotelier/Restaurateur HF, Kaufmann, Telefonist, Ausbildner, Stadtführer und blind. Jean Baldo erzählt aus seinem Alltag.
Jean Baldo, Sie arbeiten seit November 2013 ganzjährig im Dunkelrestaurant Blindekuh in Zürich. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
In der Regel arbeite ich im Büro. Ich nehme telefonische und schriftliche Reservationen entgegen, schreibe Bestätigungen und Arbeitseinsatzpläne. Mindestens einmal pro Woche bin ich abends auch im Service tätig.
Welche Hilfsmittel setzen Sie ein, um dem Gast in völliger Dunkelheit einen guten Service zu bieten?
Das Wichtigste ist die Kommunikation. Für sehende Menschen kann die Dunkelheit beklemmend oder sogar beängstigend sein. Daher spreche ich die Gäste immer an, bevor ich an ihren Tisch trete. Zum Beispiel sage ich: «Hier ist Jean. Ich serviere Ihnen jetzt von rechts Ihre Vorspeise.» Auch alle anderen Handlungen wie Einschenken, Abräumen oder den Tisch verlassen kündige ich an. So weiss der Gast immer, was in seinem direkten Umfeld geschieht.
Gibt es noch weitere Tricks?
Die Köche benutzen verschiedene Tellergrössen und -formen für die einzelnen Gerichte. So wissen wir vom Service, ob wir ein Fleisch- oder Vegigericht in der Hand halten. Ein spezielles Gericht, zum Beispiel ein Allergikermenü, wird auf einen zweiten Teller gestellt. Durch den Doppelteller ist eine Verwechslung ausgeschlossen. Damit die Servicemitarbeitenden in der Menü- und Weinkarte Infos nachlesen können, drucken wir diese mit einem Brailleschriftdrucker* aus.
Und wie machen Sie das mit dem Einkassieren?
Im «Blindekuh» bezahlen die Gäste draussen am Empfang. Dort ist es hell und eine sehende Person macht das Inkasso. Ansonsten gibt es Apps zum Erkennen von Geldnoten. Mit denen scannt man die Nötli, und die Sprachausgabe sagt einem, welchen Geldschein man vor sich hat. Das ist nützlich, denn die taktilen Merkmale auf den Banknoten sind nur bei ganz neuen Scheinen gut lesbar. Münzen hingegen erkennt man immer ganz einfach an ihrem Rand. Fünfliber haben Sterne, Ein- und Zweifränkler Rillen.
Hat sich Ihr Berufsalltag seit Corona-Beginn verändert?
Ja, auf jeden Fall. Da ich den Gästen im Dunkeln sehr nahe komme, serviere ich generell nur mit Maske. Das war etwas gewöhnungsbedürftig, geht jetzt aber sehr gut. Ausserdem war das «Blindekuh» vor Corona jeden Abend und donnerstags und freitags auch über Mittag geöffnet. Im Mai haben wir die Öffnungstage und die Sitzplatzzahl reduzieren müssen. Das versuchen wir wettzumachen, in- dem wir freitags und samstags einige Plätze am Abend zweimal vergeben. Das erste Mal um 18 Uhr, das zweite Mal um 21 Uhr. Auch können wir zurzeit den Sinnesparcours und die City Walks nicht wie gewohnt durchführen.
Sinnesparcours und City Walks? Was darf man sich darunter vorstellen?
Es geht bei beiden Angeboten darum, Sehenden den Alltag von sehbehinderten und blinden Menschen näherzubringen, was mir grossen Spass bereitet. Als Stadtführer bei den City Walks begleite ich die Teilnehmenden, zeige ihnen, wie man sich am Hauptbahnhof ohne Sehkraft zurechtfindet. Wir besuchen die Bahnhofshilfe, die Blindenberatungsstelle und fahren im ÖV zum «Blindekuh». Der Sinnesparcours ist ein Bildungsangebot im Dunkeln für 10 bis 25 Personen. Bei verschiedenen Übungen können die Teilnehmenden ihre anderen Sinne schärfen. Zum Beispiel gibt es für den Tastsinn ein spezielles Memory-Spiel und Blindverkostungen, um Geschmacks- und Geruchssinn anzuregen.
Sie sind auch als Ausbildner tätig. Was unterrichten Sie?
Ich bin für Gastrosuisse als Co-Referent im Réceptions-Kurs tätig und unterrichte das Thema «Richtiges Telefonieren». In den Tourismusfachschulen Zürich und Samedan bin ich mit der Organisation Procap im Einsatz und spreche über die Themen «Barrierefreies Reisen» und «Umgang mit blinden Gästen».
Sie haben 2002 die Hotelfachschule Belvoirpark absolviert. Ist ein eigenes Hotel oder Restaurant ein Ziel für Sie?
Nein, denn ich weiss, wie schwer es ist, einen eigenen Betrieb zu eröffnen und wie hart Corona unsere Branche getroffen hat. Langfristig möchte ich mehr im Bereich Ausbildung tätig sein. Auch würde ich gerne mein Wissen und meine Erfahrungen weitergeben und Menschen auf ihrem Weg begleiten. Deshalb plane ich, eine Coaching-Ausbildung zu machen.
(Interview Riccarda Frei)
*Die Brailleschrift ist eine aus erhöhten und dadurch ertastbaren Punktemustern bestehende Schrift. Sie wurde 1825 vom Franzosen Louis Braille entwickelt.
1999 wurde die Blindekuh gegründet. Diese Stiftung betreibt seit gut 20 Jahren das Dunkelrestaurant Blindekuh in Zürich und eröffnete 2005 ein gleichnamiges Restaurant in Basel. In beiden Betrieben arbeiten in der Küche und in der Reinigung sehende und im Service und der Administration sehbehinderte und blinde Gastgewerbler zusammen, um Gästen ein einzigartiges Erlebnis zu bieten. Die Stiftung Blindekuh ist eine der grössten privaten Arbeitgeberinnen für Menschen mit Sehbehinderungen.