Persönliche Kontakte sind durch nichts zu ersetzen. Deshalb schaut die MICE-Branche trotz veränderter Bedingungen optimistisch in die Zukunft und hat neue Angebote geschaffen.
Geschäftsreisen boomten. Mit Tagungsgästen und Besuchern von Messen und Anlässen verdienten die Hotellerie und Gastronomie viel Geld. Im grossen Stil wurde die Infrastruktur ausgebaut. Ein Beispiel ist «The Circle» beim Flughafen Zürich-Kloten. Im September 2020 eröffnet, bietet der Komplex unter anderem einen Saal für 1500 Personen, 17 Konferenzräume sowie zwei Hotels mit insgesamt 550 Zimmern. Einen Höhepunkt erlebte die MICE-Branche (siehe Fachausdrücke unten) im Juli 2019. Tausende Chinesen reisten durch die Schweiz. Sie alle waren Angestellte einer amerikanischen Kosmetikfirma und bekamen die sechstägige Schweiz-Reise als Belohnung offeriert, weil sie gut verkauft hatten. Ursprünglich rechnete das Unternehmen mit 3000 Teilnehmenden. Die Incentive-Reise hatte die Verkäuferinnen und Verkäufer zu Höchstleistungen angetrieben, so dass die Zahl der Belohnten auf 12 000 anstieg!
Dann tauchte im März 2020 das Coronavirus auf und brachte das MICE-Geschäft von einem Tag auf den anderen zum Erliegen.
Seit dem 26. Juni 2021 sind gemäss Bundesrat Veranstaltungen mit unbeschränkter Teilnehmerzahl und ohne Maskenpflicht wieder möglich. Die Voraussetzung dafür ist, dass jeder Teilnehmer beim Eingang ein gültiges Covid-Zertifikat vorweisen kann. Einige Kantone legen die Bestimmungen restriktiver aus. So gilt im Kanton Bern weiterhin Masken- und Distanzpflicht. Maximal zwei Drittel der Sitzplätze dürfen belegt werden. Trotzdem herrscht Aufbruchstimmung. Einen ersten Anlass führte die MICE-Branche mit «The Circle Conference» am 1. Juli gleich selber durch. Die Stimmung der Aussteller war verhalten positiv. Für die zweite Jahreshälfte, so hiess es durchs Band, seien in ihren Betrieben bereits zahlreiche Anlässe gebucht.
«Der Buchungsstand für den Herbst ist sehr gut. Sogar besser noch als 2019», sagt auch Lukas A. Meier, COO im Swissôtel Kursaal in Bern.
Im Mediengespräch der «The Circle Conference» warnte Daniel Koch, ehemaliger Mister Corona im Bundesamt für Gesundheit: «Die Pandemie wird nicht einfach verschwinden. Wir werden noch einige Zeit mit dem Virus leben müssen.» Gleichzeitig gab der Epidemie-Experte auch Entwarnung: «Einschränkungen, wie wir sie während der ersten und zweiten Welle hatten, wird es jedoch kaum mehr geben.»
Trotz dieses durchaus positiven Signals wurden Grossanlässe wie die Igeho in Basel und die Expovina in Zürich abgesagt. «Momentan finden kleinere bis mittlere Anlässe statt», sagt Lukas A. Meier. «Das Bedürfnis, sich auszutauschen, ist nach wie vor gross. Das Sicherheitsbedürfnis aber auch. Deshalb setzen wir unser erprobtes Schutzkonzept rigoros um.» Auch wenn persönliche Kontakte durch nichts zu ersetzen sind, ist das Risiko mit der bevorstehenden vierten Welle hoch. Dies nicht nur in Bezug auf mögliche Ansteckungen. So sind Zutrittskontrollen aufwendig, personalintensiv und damit teuer. Zudem zeigt die Erfahrung, dass die Zahl der No-shows einiges höher liegt als vor der Pandemie. «Wer auf den Ticketverkauf angewiesen ist, muss gut rechnen und sich fragen, ob er kostendeckend arbeiten kann», sagt Ewa Ming von der gleichnamigen Agentur für Events und digitales Marketing. «Wir müssen uns zeigen und führen unsere Anlässe selbst mit weniger Teilnehmenden durch. Gerade mittelständische Unternehmen brennen auf persönliche Treffen», erklärt Ewa Ming. «Die Menschen haben es nach eineinhalb Jahren Homeoffice satt, immer nur auf ihre Bildschirme zu starren.» Auch die Weiterbildung und die Mitarbeiterschulungen finden wieder live statt. «Grosse Firmen hingegen agieren noch eher restriktiv, wenn es darum geht, Mitarbeitende an Kongresse zu entsenden. Tagungen und Seminare, die sie organisieren, werden live und parallel dazu digital angeboten.»
Hybride oder digitale Anlässe werden nur dann zum Erfolg, wenn die Technik einwandfrei funktioniert. Im Swissôtel Kursaal in Bern wurde der erste Lockdown genutzt, um sich mit den neuen Technologien auseinanderzusetzen. «Wir haben viel ausprobiert und mit Partnern an Lösungen für unsere Kunden gearbeitet. Ein Grossteil unserer Veranstaltungen findet nun hybrid statt. Das wird uns sicher auch noch in Zukunft begleiten», sagt Lukas A. Meier. «Des Weiteren haben wir ein fix installiertes Streamingstudio eingerichtet, das wir zu sehr attraktiven Preisen anbieten können. Damit haben wir bisher positive Erfahrungen gemacht.»
«Hotels könnten viele Räume neu bespielen. Wer zu lange wartet, wird von Coworking-Spaces ausgebootet. Zudem sollten Hotels Veranstaltern viel mehr Unterstützung bieten», sagt Ewa Ming. «Rüstet euch auf und lernt dazu. Ein Raum mit Tischen, Stühlen, Flipchart und Beamer reicht heute nicht mehr. Ich empfehle allen, eine Menükarte für Anlässe zu erstellen. Diese soll analog zu einem Menü Packages enthalten, aber auch A-la-carte-Ideen aufzeigen, was in den einzelnen Räumen alles realisiert werden kann, und Richtpreise für einzelne Geräte und Dienstleistungen angeben.» Zudem rät Ewa Ming, beim Angebot an Technik mit einem externen Partner zusammenzuarbeiten. Hotels müssen nicht alle Geräte selber anschaffen. Wer solche nach Bedarf dazu mietet, ist immer auf dem neuesten Stand der Technik. «Auf jeden Fall lohnt es sich, eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter zur digitalen Ansprechperson auszubilden. Getreu dem Motto ‹kommt, wir helfen euch› soll diese das Funktionieren der Geräte sicherstellen. Es gibt für Referenten nichts Peinlicheres, als wenn die Technik im entscheidenden Moment nicht funktioniert.»
Ganz wichtig ist für Ewa Ming, dass die Betriebe ihre Websites regelmässig aktualisieren und die Angebote übersichtlich darstellen.
Veranstalter, die hybride und digitale Seminare anbieten, tun gut daran, ihre Inhalte zu straffen. Mit 3D-Animationen oder der Hologramm-Technologie können sie ihre Präsentationen inhaltlich aufwerten. Das ist mit Aufwand und Kosten verbunden. «Wenn Mitarbeiter weniger Reisekosten verursachen, kann mehr in die Präsentation investiert werden», sagt Ewa Ming. Spannende digitale Referate finden Anklang. Auch müssen Referenten ihr Wissen nicht zwangsläufig gratis zur Verfügung stellen. Online könnten Seminare zum Beispiel zum halben Preis des Eintritts vor Ort angeboten werden.
Corona hat die Nutzung von Räumen verändert. Hotels bieten ihre Zimmer für wenige Stunden oder ganztags als Ersatz fürs Homeoffice an. Gearbeitet wird auch in der Lobby oder an der Bar. Business verbindet sich mit Leisure. Hotelleriesuisse hat mit der Work- Smart-Initiative ein Pilotprojekt zum flexiblen Arbeiten lanciert.
Aussagekräftig ist auch das Impulspapier «Geschäftstourismus in der Schweizer Hotellerie». Mitgearbeitet haben Fachleute von Verbänden, der Hotellerie, von Destinationen und der Wissenschaft. Das Papier liefert Thesen, Analysen, Erkenntnisse und Vorschläge zur Nachfrage nach Leistungen sowie zur Angebots- und Preisentwicklung. Auf der Webseite hotelleriesuisse.ch kann das Impulspapier unter dem Titel «Perspektive für Städtehotellerie» heruntergeladen werden.
Gruppen wie im Juli 2019 werden in den kommenden Jahren wohl kaum wieder unser Land bereisen. Doch die Schweiz hat gute Chancen, sich als Veranstaltungsland für Boutique-Kongresse und -Veranstaltungen zu positionieren.Hier kann sie sich mit den schweiztypischen Attributen Sicherheit und Sauberkeit profilieren. Zudem braucht es auch keine neue Kongressinfrastruktur für Gross-events.
(Gabriel Tinguely)
www.ming-agentur.ch
www.kursaal-bern.ch
FIT
In der Hotellerie und im Tourismus steht die Abkürzung FIT für «Frequent Individual Travellers», für Menschen, die ihre Reisen individuell zusammenstellen und direkt oder über Online Travel Agencies, so genannte OTA, buchen. Oft wird auch von «Foreign Independent Travellers» gesprochen. Dies ist jedoch nicht korrekt. Denn bei der Preisgestaltung wird nicht zwischen in- und ausländischen Individualgästen unterschieden.
Leisure
Der englische Begriff «leisure» lässt sich mit Freizeit und Musse übersetzen. Dieses Segment wird im Tourismus häufig mit dem Gegenpart «business» in Verbindung gebracht. «Business and leisure» beschreibt einen Aufenthalt, bei dem der berufliche Aufenthalt durch das Anknüpfen von Ferientage verlängert wird.
MICE
Die vier Buchstaben, ausgesprochen: mais, stehen für Meetings, Incentives, Conventions und Events. MICE bezeichnet den Geschäftstourismus, der die Organisation und Durchführung von Tagungen (Meetings), von Unternehmen veranstalteten Anreiz- und Belohnungsreisen (Incentives), Kongressen (Conventions) sowie Ausstellungen oder Anlässe (Exhibitions beziehungsweise Events) umfasst. Zur MICE-Industrie gehören Messe- und Veranstaltungshallen, Kongresszentren, historische Bauten mit Tagungsinfrastruktur, Hotels, die auf Tagungen eingestellt sind, deren Zulieferer wie Cateringunternehmen, Dolmetscher, Raumdekorateure, Möbelvermieter oder Mietwagen- und Busunternehmen sowie die Professional Convention Organizer, kurz PCO.
OTA
Zu den Online Travel Agencies, kurz OTA, gehören Online-Reisebüros sowie die Buchungsplattformen.
PCO
Professional Congress Organizers sind national oder international tätige Organisationen, Ämter, Unternehmen oder Verbände, die regelmässig Tagungen veranstalten, Messen organisieren oder Mitarbeitern oder Geschäftspartnern Belohnungsreisen anbieten.
Claude Membrez, welche Art von Anlässen werden mittelfristig stattfinden?
Wir rechnen mit kleineren, erlebnisorientierten Veranstaltungen. Auch werden weniger Besucher anreisen und viele die Veranstaltungen digital oder mittels Live-Schaltung mitverfolgen. Anlässe werden jedoch für die Veranstalter nicht günstiger. Was bei der Miete kleinerer Flächen eingespart wird, muss neu in digitale Technik investiert werden.
Wird die Nachfrage wiederauf das Niveau von vor Corona zurückkehren?
Nein. Die Veranstaltungen werden anders sein, kleiner und konzentrierter, aber häufiger. Die internationalen Veranstaltungen werden in verschiedenen Ländern geklont. Unsere Erfindermesse wurde bereits im Nahen Osten, in den USA und in China durchgeführt. Asien wird attraktiver, und wir können uns eine Rückkehr von Veranstaltern in diese Länder vorstellen – zum Nachteil von Europa. Andererseits werden Industrien, die sich nach Asien verlagert haben, nach Europa zurückkehren, was die Entwicklung neuer Messen ermöglicht. Die alten Formate werden leiden, wenn sie sich nicht neu erfinden.
Wie sehen Sie die Zukunftvon Palexpo und Genf als Messestadt?
Claude Membrez: Die Schweiz, Genf und Palexpo müssen sich neu aufstellen. Veranstaltungen brauchen jedoch immer Räume, Hotels sowie touristische Angebote. Menschen werden sich an Orten wiedersehen wollen, die vor allem Sicherheit, Qualität, Erlebnis und Entdeckung vereinen.
Welche Auswirkungen hatdies für die Stadt Genf?
Durch kleinere, häufigere Veranstaltungen werden die Hotels gleichmässiger ausgelastet. Um preislich attraktiv zu bleiben, baucht Genf auch ein fantasievolles Rahmenprogramm.
Claude Membrez ist Direktor des Genfer Messe- und Kongresszentrums Palexpo. Er absolvierte die Hotelfachschule in Lausanne.