Mediadaten Données Media Olympiade der Köche

Schon die Tomate hatte es nicht leicht

Wohin entwickelt sich die Lebensmittel- und Gastronomiebranche? Die «Food Innovation Conference» des GDI warf einen Blick in die Zukunft und stellte fest: Nur, wenn Traditionen nicht aus den Augen verloren werden, können sich Innovationen durchsetzen.

Wir leben in einer neuen Welt», stellt Jochen Pinsker vom Marktforschungs­institut Circana fest. Er präsentierte an der vierten internationalen Food Innovation Conference des Gottlieb Duttweiler Instituts GDI die neuesten Erkenntnisse zum globalen Ausser-Haus-Konsum und resümierte: «Die Pandemie hat unser Leben nachhaltig verändert.» Durch vermehrtes Arbeiten von zuhause aus, Online-Shopping und abnehmende Geschäftsreisen wird weniger ausser Haus konsumiert. «Am meisten verloren hat der Markt im Bereich Arbeit und Ausbildung. Dafür haben Bereiche wie Take-away und Convenience zugelegt. Betriebe müssen sich auf diese Veränderungen einstellen.»

Besonders wichtig sind den Gästen von heute und morgen die Themen Nachhaltigkeit und Gesundheit. «Das Thema Gesundheit spielt insbesondere bei sogenannten funktionalen Restaurantbesuchen eine wichtige Rolle, also etwa unterwegs an Raststätten oder in der kurzen Mittagspause», so Pinsker. Bei emotionalen Restaurantbesuchen wie dem Abendessen mit Freunden hingegen spiele der Genuss weiterhin die Hauptrolle.

Weg von der Massenproduktion: Slow Food ist überzeugt, dass es lokale Kreisläufe braucht, die sich selbst versorgen.

300 Jahre bis zur Etablierung

Dass sich unser Ernährungssystem in eine nachhaltigere Richtung entwickeln muss, darüber waren sich die Referenten der Konferenz einig. Und auch darüber, dass dies von den meisten Gästen gewünscht ist. Doch trotz  des Wunsches nach nachhaltigen Produkten tun sich manche Innovationen auf dem Markt schwer. Woran liegt das? Soziologe Claude Fischler wies in seinem Referat darauf hin, dass es immer Innovationen gab, die Mühe hatten, sich zu etablieren. So dauerte es beispielsweise 300 Jahre, bis sich die Tomate in Italien durchsetzte. Heute ist sie untrennbar mit der kulinarischen Tradition des Landes verbunden.


«Die Vorsicht vor Neuem ist tief in unseren Genen verwurzelt.»

Claude Fischler, Soziologe


Doch Essenskulturen zu ändern, sei nicht so einfach. Denn die Menschheit unterliegt dem Paradox des Omnivoren: Wir können fast alles essen, weswegen unserem Innovationspotenzial kaum Grenzen gesetzt sind. Handkehrum ist jedes neue Lebensmittel theoretisch eine Gefahr – die Vorsicht gegenüber Unbekanntem ist tief in unseren Genen verwurzelt.

«Kulinarische Traditionen sollen dieses Paradox lösen: Sie geben uns einen Rahmen, in dem wir uns bewegen», so Fischler. Wenn neue Lebensmittel in das Regelwerk bestehender Traditionen passen, haben sie also bessere Chancen, sich durchzusetzen. Das vielkritisierte vegane Würstchen ist ein gutes Beispiel. Die Menschen wissen sofort, wie sie es zubereiten und kombinieren können – das erleichtert die Einbindung des Neuen in den Kochalltag.

Fleisch und Vegi an einem Tisch

Eine Firma, welche Tradition und Innovation anscheinend perfekt vereint, ist «Rügenwalder Mühle» aus Deutschland. Seit 1834 spezialisiert auf Wurstwaren, macht das Unternehmen heute über 60 Prozent des Umsatzes mit vegetarischen und veganen Produkten. «Wir haben unser Geschäftsmodell seit der Gründung sechsmal auf den Kopf gestellt, um in neue Märkte einzusteigen» erklärt Patrick Bühr, Head of Research and Development. 2014 ist man in das Geschäft mit vegetarischen und veganen Produkten eingestiegen: «Weil die Unternehmungsführung skeptisch war, was die Zukunft des Fleischmarkts anbelangt.»

Kulinarischer Genuss mit Freunden im Restaurant oder schnelle Verpflegung unterwegs? Zwei Trends, bei denen die Gäste unterschiedliche Anforderungen an Lebensmittel haben. (Illustrationen Sonja Demarmels/Pierina Bucher)

Ein Wursthersteller, der seine eigenen Produkte mit veganen Alternativen anscheinend konkurrenziert – das stiess bei vielen Beobachtern zunächst auf Unverständnis. Doch Patrick Bühr ist überzeugt, dass diese Transparenz eines der Erfolgsgeheimnisse des Unternehmens ist: «Wir haben keine zweite Marke oder Linie mit eigenem Design ins Leben gerufen, sondern stellen unsere Fleisch- und vegetarischen Produkte bewusst nebeneinander. Wir sind für alle da und wollen niemanden bekehren. Sowohl Fleischliebhaber als auch Vegetarier, Veganer und Flexitarier finden in unserem Sortiment das passende Produkt.»


«Wer könnte bessere vegane Würste entwickeln als ein Wursthersteller?»

Patrick Bühr, «rügenwalder mühle»


Dass die vegetarischen und veganen Produkte unter derselben Marke und demselben Design laufen, hat auch im Bereich Marketing Vorteile: «Wir haben viel Geld in die Entwicklung unseres Brands gesteckt und geniessen grosses Vertrauen unserer Kunden. Es wäre verschenkt, das nicht zu nutzen.» Unter anderem wurde «Rügenwalder Mühle» mehrmals zum «most trusted brand» in Deutschland gewählt. «Wer wäre besser dafür geeignet, fleischlose Produkte zu entwickeln, die schmecken wie das Original? Immerhin haben wir mit Fleisch fast 200 Jahre Erfahrung», so Patrick Bühr.

Zellen statt Kühe auf dem Hof

Neben veganen Alternativprodukten werden künftig wohl auch Fleisch- und Milchprodukte aus Zellkulturen eine Rolle in unserer Ernährung spielen. Sie versprechen um bis zu 92 Prozent weniger CO2-Emissionen und bis zu 78 Prozent weniger Wasserverbrauch. Ob sich diese Versprechen bei einer Massenproduktion tatsächlich einlösen lassen, wird sich zeigen – weitere Pro-Argumente sind mehr Tierwohl und die zuverlässigere Verfügbarkeit. Die Skepsis gegenüber solchen «Labor-Produkten» ist in der Bevölkerung aber hoch. Daher versuchen neue Start-ups, an die Tradition der Fleisch- und Milchwirtschaft anzuknüpfen und die Produktion den Käsereien und Bauern zu übergeben.

So engagiert sich beispielsweise der walisische Bauer Illtud Dunsford für die Förderung von  Fleisch aus Zellkulturen in der Agrarwirtschaft. «Das macht Sinn, weil sowohl die Zellen als auch ihr Futter landwirtschaftliche Produkte sind», so Dunsford. Das System sei noch jung genug, um sich vom Labor auf Bauernhöfe zu verlagern, wo die Bauern mehr Kontrolle über Konditionen und Preisgestaltung des «neuen» Fleischs hätten. Zudem gäbe es ihnen neue Entwicklungschancen in einer sich verändernden Lebensmittelwelt. Auch bezüglich Akzeptanz in der Bevölkerung hätte ein solches System Vorteile: «Das Fleisch käme weiterhin von Bauernhöfen. Die Skepsis wäre daher vermutlich kleiner.»

Pizzakäse vs. lokale Spezialitäten

Eine ähnliche Richtung schlägt das österreichische Unternehmen Fermify ein. Es vertreibt Bioreaktoren, in denen mithilfe von Präzisionsfermentation Käse aus Zellkulturen hergestellt werden kann. Das Zielpublikum: Käsereien. «Sie sind die Profis, sie sollen mithilfe unserer Technologie eigene Produkte entwickeln», so CEO Eva Sommer. Potenzial sieht sie vor allem bei industriellen Produkten wie Pizzakäse oder teilweise auch im sehr hochpreisigen Käse-Segment. «Lokal hergestellte und mit Emotionen behaftete Käsespezialitäten konkurrenziert unser Produkt nicht», ist sie überzeugt.

Neben hochindustriellen Lösungen gibt es einen entgegengesetzten Trend in der Lebensmittelbranche: Slow Food. Marta Messa, Secretary General der Vereinigung Slow Food, ist überzeugt: «Es gibt genug Essen für alle auf dieser Welt.» Doch die Art und Weise der Landwirtschaft, Verarbeitung und Verteilung müsse sich dramatisch ändern. Für ein nachhaltiges Lebensmittelsystem brauche es diversifizierte lokale Kreisläufe, welche traditionelles Wissen über das regionale Ökosystem nutzen. Die Rückbesinnung auf traditionelle Werte führe zu einem zukunftsgerichteten System, welches die Biodiversität fördert, die Risiken von Monokulturen abfedert und lokale Gemeinschaften ermächtigt, sich selbst zu versorgen.

Ob Fleisch und Käse aus Zellkulturen oder lokale Klein-Bauernhöfe – die GDI-Tagung machte klar: Nur, wer kulturelle Traditionen miteinbezieht, wird mit dringend notwendigen Innovationen Erfolg haben.

(Angela Hüppi)


International Food Innovation Conference

Die Tagung des Gottlieb Duttweiler Instituts ist eine jährlich stattfindende Veranstaltung zur Zukunft der Ernährung. Sie umfasst sowohl technologische als auch gesellschaftliche Veränderungen im Ökosystem der Ernährung. Ziel ist, aktuelle Trends in einen übergeordneten Kontext zu stellen und langfristige Perspektiven zu entwickeln. Unter dem übergreifenden Thema «Der Aufbau eines nachhaltigen Food-Systems» bringt die Konferenz Vordenker, Expertinnen und Start-ups zusammen.


Zahlen und Fakten

41

Prozent der Berufstätigen arbeiteten im Januar 2024 ganz oder teilweise von ­zuhause aus. Vor der Pandemie waren es 23 Prozent.

Immer mehr Gäste bestellen am liebsten digital, auch im Restaurant.

153

Prozent mehr Gäste gingen im Jahr 2019 alleine ins Restaurant als noch im Jahr 2010.

10

Prozent weniger Gastronomiebesuche gab es 2023 im Vergleich mit den ­Jahren vor der Pandemie.

New Work und Home Office haben den Ausser-Haus-Konsum stark sinken lassen.

50

Prozent der Gäste erwarten von der Gastronomie mehr Nachhaltigkeit.

Wer digital bestellt, gibt tendenziell mehr aus.

­26

Prozent der Mahlzeiten in den USA werden im Auto verzehrt. In Spanien sind es nur zwei Prozent.

Quelle: Circana


Mehr Informationen unter:

gdi.ch