Der Genussmensch und langjährige Weinautor vermittelt in seinem Büchlein Flüssiges und Überflüssiges rund um den Wein.
Ulrich Schweizer, wir treffen uns zum Interview in einem Berner Restaurant. Was halten Sie von der Weinkarte?
Die Weinliste ist kurz und das Angebot eher klassisch. Experimentelle Weine sind keine zu finden. Vorsichtig in der Preisberechnung passt das Weinangebot zur bodenständigen Küche des Restaurants.
Sie wählten einen Œil-de-Perdrix aus Neuenburg. Weshalb?
Ich habe Coq au vin bestellt. Da weiss man nie, ob er mit Weiss- oder Rotwein zubereitet ist. Deshalb wählte ich einen Wein zwischen Weiss und Rot. Ein Chasselas könnte mit der Sauce vermutlich nicht mithalten und ein Rioja, wie er auf dem Nebentisch steht, wäre zu kräftig. Zudem bin ich eine treue Seele. Œil-de-Perdrix ist eine Neuenburger Erfindung. Wenn ich so überlege, gibt es sogar noch einen dritten Grund: volaille zu volaille – Geflügel zu Geflügel.
Was fasziniert Sie daran?
Ein Œil-de-Perdrix zeigt die vielen Facetten der Rebsorte Pinot Noir. Häufig duftet ein Pinot-Rosé intensiver nach roten Johannis- und Himbeeren als ein Pinot-Noir-Rotwein. Der Œil-de-Perdrix bietet ein unverfälschtes Nasenerlebnis.
Haben Sie einen Lieblingswein?
Nein. Früher trank ich gerne roten Bordeaux. Heute kommt es ganz auf die Situation an.
Sie haben Politikwissenschaft studiert. Wie kamen Sie auf den Geschmack von Wein?
Als Ausgleich zum Studium. Ich hatte einen sehr trockenen Professor. Ein erstes Erlebnis war ein Reinfall mit einem überalterten Herrschäftler Rotwein. Zusammen mit einem Studienkollegen entdeckte ich die Systematik der Crus classés aus dem bordelaiser Médoc. Das faszinierte uns Studenten. Wir studierten die Bücher von Michael Broadbent, Michel Dovaz sowie den «Kleinen Johnson» und legten los. Bordeaux war für zwei Studenten ein harmloses Hobby. 20 bis 30 Franken kosteten damals die besten Flaschen.
Wie geht die Geschichte weiter?
Wir analysierten die Crus und fanden viele grossartige Nasen- und Gaumenfreuden. Dazu assen wir Fleischkäse und Brot, was immer passte. Einmal war ich eingeladen. Bei Georg Riedel gab es einen Château Margaux und dazu Tomatenspaghetti. Schade für den grandiosen 1982er. Nur Rhabarber und Wein ist die schwierigere Kombination als Wein zu Tomatenspaghetti.
Seit beinahe 50 Jahren beobachten Sie die Welt des Weins. Was wandelte sich?
Beginnen wir beim Handel. Ich bin ja vor allem Konsument. Eine erste grosse Veränderung brachten die Weine der Neuen Welt, die in den 1980er-Jahren den europäischen Markt fluteten. Nach den Erzählungen meines Vaters, eines Geographielehrers, bekamen die Kontinente Nord- und Südamerika, Afrika und Australien eine neue Bedeutung. Wo herrschen welche Bedingungen? Wo gedeihen welche Rebsorten? Das waren spannende Fragen. Plötzlich standen die Namen der Rebsorten auf den Etiketten. Wir lernten, dass man Bordeaux mit Cabernet und Burgunder mit Pinot Noir vergleichen konnte.
Praktisch für die Konsumentinnen und Konsumenten.
In gewissser Weise schon. Die Weine aus Übersee veränderten das Verständnis für Wein. Man konnte ihn sofort geniessen und musste ihn nicht erst zehn Jahre in den Keller legen.
Wie ordnen Sie die aktuelle Situation ein?
Für mich ist es ein wunderbares Erlebnis, um die Ecke zu einem Schweizer Weingut zu fahren und hervorragende Weine für wenig Geld kaufen zu können.
War das der Auslöser für Ihr Büchlein?
Nein. Um das Jahr 2000 war ich Schlussredaktor von 24 Bändchen des Vinum-Weinguides. 20 Jahre später kontaktierte mich der damalige Lektor und fragte, ob ich Zeit und Lust hätte, ein kleines Weinbuch zu schreiben. Ich überlegte mir, ob mir genug einfällt, dann sagte ich zu. Ich wollte Wein so vorstellen, wie er uns begegnet: zuerst mit dem Auge, dann der Nase, dem Gaumen und am Schluss mit dem Verstand.
Worum geht es?
Ich nenne keine Namen, weder von Winzern noch von Weinen. Die Lesenden sollen ihre Sinne schärfen und sich selber bewusst werden, was sie mögen. In diesem Sinn ist mein Werk eine typisch schweizerische, basisdemokratische Publikation. Vielleicht so wie die Unterlagen, die man vor Wahlen und Abstimmungen erhält, einfach auf Wein bezogen. Der erste Eindruck von Kandidierenden wie von Wein ist optisch – die Flasche, das Etikett, die Farbe. Dann folgen die Nase und der Gaumen. Apropos Gaumen: Kleinkinder wollen alles in den Mund nehmen, wenn sie anfangen, die Welt zu entdecken. Damit mein Büchlein nicht im Säuglingsalter stecken bleibt, kam als letztes das Kapitel Quantum dazu. Darin geht es um alles, was man zählen und messen kann. Zum Beispiel um die Menge Wein, die man trinken kann, ohne die Gesundheit zu ruinieren. Aber auch darum, wie viel eine Flasche Wein kosten muss – und kosten kann.
In jedem Satz liefern Sie neue Informationen. Hatten Sie nie Angst, die Leser zu überfordern?
Nein, das nicht. Doch ich als Autor hatte erst Angst vor dem leeren Blatt Papier, dann vor überflüssigem Geschwafel. Ich begann zu kürzen und hielt den Text so knapp wie möglich.
Gibt es Weine, die Sie persönlich überfordern?
Ja, Naturweine, bei denen der Grat zwischen Wein, saurem Most oder gar Essig sehr schmal ist.
Was halten Sie vom Weinangebot in der Gastronomie?
Ich bestelle gerne guten Flaschenwein glasweise. Weinempfehlungen aus der Region sowie solche von renommierten oder neuen Winzerinnen und Winzern nehme ich gerne an. Auch finde ich es angebrachter, mit einem Kostendeckungsbeitrag zu rechnen als mit Faktor drei.
(Interview Gabriel Tinguely)
Ulrich Schweizer stammt aus einer knochentrockenen Abstinentenfamilie, fand erst mit 20 den Zugang zum Wein. Er studierte Politikwissenschaft und Französisch und probierte grosse Weine von Bordeaux. Das führte ihn zum Weinmagazin Vinum. Er übersetzte Fachbücher. Seit 2018 ist Ulrich Schweizer Ambassador des Sommelierverbandes.
Titel: «… und was trinken Sie?»
Autor: Ulrich Schweizer
ISBN: 978-3-629-00478-9