Wie kann die Abwanderung von Fachkräften gestoppt werden? Ein Ansatzpunkt sind attraktivere Arbeitszeiten. Das 4 : 3-Modell sei nicht überall gefragt, sagen Experten im Gespräch am runden Tisch.
Weil Lohn, Wertschätzung und Arbeitszeit nicht stimmen, verlassen Tausende von Mitarbeitenden das Gastgewerbe. Das kratzt am Image der Branche und führt schon seit Jahren dazu, dass sich immer weniger Junge für einen Beruf in der Gastronomie und in der Hotellerie interessieren. Die Hotellerie Gastronomie Zeitung lud zu einem Round-Table-Gespräch ein, um mit Fachleuten die Situation zu analysieren und Lösungen für den eklatanten Fachkräftemangel anzudenken. Mit von der Partie waren die Human-Resources-Spezialisten Astrid Kaiser und Christian Burkhard, die Küchenprozess-Profis Urs Leuthold und Marcel Wissmann sowie der Leiter Rechtsdienst der Hotel & Gastro Union Roger Lang. In ihren Analysen gingen die Teilnehmer auf jahrelange Versäumnisse in der Branche ein, zeigten aber auch mögliche Lösungen auf wie das Eingehen auf individuelle Mitarbeiterbedürfnisse nach attraktiveren Arbeitszeiten.
HGZ: Hand aufs Herz, gibt es wirklich einen Fachkräftemangel? Oder ist er nur ein Medien-Hype?
Astrid Kaiser: Der Fachkräftemangel in unserer Branche ist kein neues Phänomen. Wir müssen aber jetzt wirklich umdenken zum Beispiel bei den Arbeitszeiten, bei den Arbeitsbedingungen, bei der Betriebskultur und Wertschätzung. Die derzeitigen Diskussionen um den Fachkräftemangel haben Druck auf die Branche erzeugt, was ich grundsätzlich gut finde. Denn wir müssen jetzt etwas für den Berufsnachwuchs, für Quereinsteiger, für die Bildung allgemein tun.
Roger Lang. Demografisch gesehen war schon lange ein Mangel an Arbeitskräften absehbar. Nun herrscht ein Kampf um die besten Talente. Unsere Branche hat es seit vielen Jahren versäumt, attraktivere Rahmenbedingungen zu schaffen, um Nachwuchs anzuziehen und Profis zu halten.
Urs leuthold: Spezialisten sind begehrt. Von 20 Köchen, die mit mir an der Fachhochschule Bern Lebensmitteltechnologie studiert haben, sind allesamt in die Industrie abgewandert. Und warum? Weil sie in unserer Branche keine Perspektive sehen. Obschon wir grosse Hotelbetriebe haben, die einen Lebensmitteltechnologen in vielen Bereichen einsetzen könnten. Das ist frustrierend.
Wo sehen Sie weitere Versäumnisse?
Marcel Wissmann: In der Lernendenausbildung ist sehr viel Geschirr zerschlagen worden. Schlechte Führung und hohe Arbeitsbelastung in den Betrieben sind einige Gründe. Hinzu kommt der hohe Anteil an Lehrabbrechern. Und ein weiterer Punkt: Fehlbesetzungen. Viele Mitarbeitende sind in ihren Positionen über- oder unterfordert.
Roger Lang, Leiter Rechtsdienst, Hotel & Castro Union
Roger Lang: Sind die Mitarbeitenden zu wenig gut ausgebildet oder zahlt man ihnen einfach zu wenig Lohn?
Marcel Wissmann: Ich glaube, viele Leute in Führungspositionen sind zu wenig gut ausgebildet. Viele sind auf Blindflug und haben von Strategien und Prozessen zu wenig Ahnung.
Astrid Kaiser: Unsere Branche krankt daran, dass gute Fachkräfte schnell und sehr jung in eine Führungsposition kommen, ohne dafür richtig ausgebildet zu sein. Ihnen fehlt es an Lebenserfahrung, sie beherrschen die Skills für gute Mitarbeiterführung noch zu wenig und sind dann mit schwierigen personellen Situationen oft überfordert.
Christian Burkhard: Als ich im Service tätig war, hatte ich oft Vorgesetzte, die weder das nötige Fachwissen hatten, noch den richtigen Umgangston pflegten. Es gibt das Sprichwort: «Man befördert Leute so lange, bis sie den Job nicht mehr können.» Das trifft in unserer Branche leider oft zu.
Astrid Kaiser: Der raue Umgangston von früher hat abgenommen, es gibt aber in vielen Hotels immer noch hierarchische Strukturen, die aufgebrochen werden müssen. Die Jungen wollen mitreden und mitbestimmen.
Gibt es neben Führungsschwäche, hoher Belastung, Perspektivlosigkeit, demografischem Wandel, fehlender Wertschätzung und neuen Ansprüchen weitere Punkte, die zum heutigen Fachkräftemangel geführt haben?
Marcel Wissmann: Ja, die Bereiche Missmanagement und mangelnde Wertschöpfung. Dadurch werden eben nur 15 Mitarbeitende statt der eigentlich benötigten 20 in Betrieben beschäftigt.
Astrid Kaiser: Zahlreiche kleine Betriebe sind am Rudern. Das operative Geschäft nimmt häufig zu viel Zeit in Anspruch, so dass das Führen und das Weiterentwickeln von Mitarbeitenden darunter leiden.
Christian Burkhard: Es wurden viel zu lange Betriebe ohne Konzept und ohne Visionen eröffnet. Dementsprechend wurde gewirtschaftet und Mitarbeitende verheizt.
Urs Leuthold: Das kann ich aus meiner Beratertätigkeit bestätigen. Allzu oft werden Konzepte oder Businesspläne, falls es sie überhaupt gibt, auf Fresszetteln verfasst. Darf ich noch etwas anderes einwerfen?
Bitte gerne.
Urs Leuthold: Es ist wichtig, Arbeitsprozesse zu standardisieren und gleichzeitig mehr Raum zu schaffen, um den Lernenden das Handwerk so zu vermitteln, dass ihre Augen leuchten. Das muss der Weg sein!
Astrid Kaiser: Es gibt sie immer mehr, die Ausbildner, die begeistern und entwickeln. Wir konnten beispielsweise sechs von acht Lernenden in unserem Betrieb halten.
Urs Leuthold: Sehr gut, aber schweizweit ist das leider nicht so.
Was muss aus Sicht der Hotel & Gastro Union angepackt werden?
Roger Lang: Vieles wurde bereits genannt wie bessere Führung und Wertschätzung. Wichtig ist aber auch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit mit verlässlichen Dienstplänen – und natürlich der Lohn. Es geht um Lohnperspektiven. Viele verlassen nach der Grundbildung die Branche, andere mit Ende 20, Anfang 30, weil sie eine Familie gründen wollen. Arbeitgebende, die zwei von den drei Punkten Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit, Wertschätzung sowie höherer Lohn erfüllen, finden und halten Mitarbeitende.
Was halten Sie vom Vorschlag, den Arbeitsmarkt weiter zu öffnen und Personal aus Südamerika, Asien und Afrika zu rekrutieren?
Astrid Kaiser: Wir beschäftigen bereits in unserem Resort Mitarbeitende aus 50 Nationen. Aber es ist schwierig, Spezialisten zu finden wie beispielsweise für ein japanisches Restaurant.
Christian Burkhard: Für Stadtbetriebe wäre das sicher lukrativ, für uns jedoch weniger. Wir in der Lenk suchen Arbeitskräfte, die Deutsch und Französisch beherrschen, da unsere Gäste zu 90 Prozent aus der Schweiz kommen.
Wie ist die Haltung der Hotel & Gastro Union?
Roger Lang: Der Vorschlag ist «neuer Wein in alten Schläuchen». Wir hatten das Saisonnierstatut, das viele soziale Härtefalle nach sich zog. Betriebe konnten auf Kosten billiger Arbeitskräfte über-leben. Die Problemlösung liegt nicht im Akquirieren neuer, billiger Arbeitskräfte, sondern in einer Strukturbereinigung. Wir haben zu viele Betriebe, die nicht marktfähig wirtschaften.
Astrid Kaiser: Ich sehe den Vorschlag als Chance für die Branche, zum Beispiel Flüchtlinge zu beschäftigen und diese nicht als Billigarbeitskräfte zu betrachten. Es gilt Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sie ausgebildet werden können.
Was kann man jetzt konkret unternehmen, um die Situation zu entschärfen? Stichwort Arbeitsprozesse.
Urs Leuthold: Wir wissen heute, dass wir mit Systemen in der Küche sprichwörtlich bis an den Tellerrand heran frische und lang haltbare Speisen produzieren können. Durch Convenience-Herstellung sind Betriebe in der Lage, die Wertschöpfung im Haus zu halten. Die Idee ist, eigene Rezepte umzusetzen, den Service durch eine durchdachte Mise-en-place gut zu managen .
Marcel Wissmann: Ich denke, durch automatisierte Prozesse wie eine Serienproduktion von mehreren Chargen an Speisen kann man viel erreichen. Wichtig ist eine klare Strategie unter Einbezug aller Mitarbeitenden und eine klare Marktpositionierung.
Urs Leuthold: Richtig. Und da muss man sich schon die Frage stellen, wohin wir die Köche in der Ausbildung führen wollen. Weiter zum Pinzettenleben? Oder hin zu Prozessen und Produktionen, die auf Traditionellem wie das Pasteurisieren oder das Heissabfüllen basieren. Gerade für kleinere Betriebe wären solche Prozesse eine gute Massnahme gegen den Fachkräftemangel.
Christian Burkhard, Leiter Human Resources, Lenkerhof
Im Gespräch ist des Weiteren die 4-Tage-Arbeitswoche. Kann man damit Leute in der Branche halten?
Astrid Kaiser: Ich denke, nicht für jeden ist diese Variante das einzig Richtige. Wichtig ist, die Mitarbeitenden in die Arbeitszeitplanung einzubeziehen. Wir haben Mitarbeitende in unserem Betrieb, die die Zimmerstunde lässig finden, und solche, die lieber nur am Abend oder nur am Morgen arbeiten, sowie solche, die lieber unter der Woche als am Wochenende frei haben.
Urs Leuthold, Berater Gastroperspektiv, Schönbühl
Das hat eine interne Befragung ergeben. Wir haben daher verschiedene Arbeitszeitmodelle in Verwendung. Ich denke, solche Wege muss man vermehrt gehen, um den Bedürfnissen der Mitarbeitenden zu entsprechen.
Es gibt die Individualisierung auf der Gästeseite. Jetzt muss die Individualisierung bei den Mitarbeitenden her, richtig?
Astrid Kaiser: Unbedingt!
Marcel Wissmann: 80 Prozent sind Kleinbetriebe, und die müssen agiler werden – von den Prozessen bis zu den Arbeitszeiten.
Astrid Kaiser, Chief of People & Culture, Grand Resort Bad Ragaz
Christian Burkhard, was sind denn Ihre Rezepte?
Christian Burkhard: Wir sind nicht wie Zürich ein Place to be und mussten schon immer mehr machen, um Mitarbeitende zu gewinnen und zu halten. Unser Rezept sind Benefits. Wir haben attraktive Mitarbeiterwohnungen zu günstigen Mietzinsen. Mitarbeitende können den Spa und das Gym nutzen. Das kommt sehr gut an. Zudem sind wir flexibel und kümmern uns gut um unsere Mitarbeitenden. Einige Mitarbeitende haben das 4 : 3-Arbeitsmodell ausprobiert, haben aber wieder zurückgewechselt.
Astrid Kaiser: Die 4-Tage-Arbeitswoche ist kein Patentrezept.
Christian Burkhard: Genau. Wichtig ist, die Mitarbeitenden zu fragen, wie sie gerne arbeiten möchten und entsprechende Lösungen anbieten …
Urs Leuthold: … und dass man vermittelt, jeder ist ein wichtiger Teil des Unternehmens.
Astrid Kaiser: Mitarbeitende können bei uns deshalb ihre Ideen eingeben. Das stärkt das Gemeinschaftsgefühl.
Christian Burkhard: Wir lassen Mitarbeitende darüber abstimmen, wie gut eine eingebrachte Idee ist. Und für die Idee, die am meisten «Likes» erhält, gibt es einen 100-Franken-Gutschein.
Roger Lang: Es gibt Betriebe, die einen Mitarbeiterrat gebildet haben. Projekte, wie zum Beispiel eine neue Mitarbeiteruniform einzuführen, wurden um-gesetzt. Diese Betriebe haben kein Problem, Fachkräfte zu finden und prägen ein gutes Image unserer Branche.
Marcel Wissmann, Inhaber Food & Technic, Wabern
Christian Burkhard, Sie haben die Studie «Tod der Zimmerstunde» verfasst. Was sind Ihre Haupterkenntnisse?
Christian Burkhard: Erstens: Über die Hälfte der von mir befragten Unternehmer sagte, dass sie keine Ahnung von den Bedürfnissen ihrer Mitarbeitenden haben. Zweitens: Nur 50 Prozent aller Arbeitnehmenden fühlen sich wertgeschätzt. Und drittens: Bestehende Arbeitszeitmodelle sind nicht auf jeden Betrieb anwendbar. Es braucht individuelle Lösungen.
Roger Lang: Die im L-GAV fixierten Rahmenbedingungen für Arbeitszeiten lassen eine sehr grosse Gestaltungsfreiheit zu.
Mit anderen Worten: Der Spielraum ist laut L-GAV gross – jetzt müssen ihn die Betriebe nur flexibel nutzen?
Roger Lang: Richtig. Der L-GAV schränkt nicht ein, sondern offeriert eine grosse Spielwiese für individuelle Arbeitszeitlösungen.
(Riccarda Frei und Jörg Ruppelt)
Astrid Kaiser
Die Absolventin der Hotelfachschule Zürich ist seit diesem Frühjahr Chief of People and Culture im Grand Resort Bad Ragaz und seit 2021 Fachdozentin für Human Resource & Organisationsentwicklung an der Erasmus Hochschule Basel.
Christian Burkhard
Der gelernte Restaurationsfachmann EFZ ist seit 2022 Leiter Human Resources im Lenkerhof Gourmet Spa Resort und Mitglied der Geschäftsleitung der Weinhandlung Vobu Collections. Er ist Autor der Studie «Tod der Zimmerstunde».
Urs Leuthold
Der gelernte Koch, eidgenössisch diplomierter Hotelier und Lebensmitteltechnologe FH ist Berater und Konzepter bei der Gastroperspektiv AG sowie Berater und Entwickler Kochsystemtechnik bei der Hugentobler Kochsysteme AG in Urtenen-Schönbühl/BE.
Marcel Wissmann
Der eidgenössisch diplomierte Küchenchef/PL und Absolvent der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ist seit 1996 Inhaber und Geschäftsführer des Gastroberatungsunternehmens Food & Technic GmbH in Wabern/BE.
Roger Lang
Der gelernte Kaufmann EFZ und Sozialversicherungsfachmann mit eidg. FA ist seit 2007 bei der Hotel & Gastro Union tätig, erst als Sachbearbeiter, dann als Verantwortlicher für Lernende im Schweizer Gastgewerbe, als stellvertretender und seit 2021 als Leiter Rechtsdienst und Sozialpolitik.