Von Hirn bis Hoden: Im Berliner Restaurant «Herz und Niere» wird alles verwertet. Auch Blut, Bries oder Milz bekommen ihren Platz im Menü.
Eine «Berliner Schnauze» muss man in der deutschen Hauptstadt nicht lange suchen. Dass man sie jedoch ausgerechnet in einem Restaurant findet, das kürzlich mit 13 Gault-Millau-Punkten ausgezeichnet wurde, ist ungewöhnlich. Dazu noch serviert auf einem Teller. Zwischen Grünkohl und Petersilienwurzel macht sie es sich bequem: das Schnäuzchen vom Schwein. Wahrscheinlich vom «Egon», oder vom «Romeo» – die Betreiber des Kreuzberger Restaurants nennen die Tiere gern beim Namen. Zwei Stunden im Ofen gegart und über Nacht in Sud einglegt, ist die Schnauze der Hauptakteur des Gerichts. Eine Rolle, die das Körperteil in der Gastronomie nicht oft bekommt. «Wieso eigentlich nicht?», fragten sich Koch Christoph Hauser und Gastgeber Michael Köhle und eröffneten vor fast vier Jahren das «Herz & Niere» in Berlin-Kreuzberg.
«Wir wollten nicht mehr die Ecken vom Brot abschneiden oder den Fisch eckig schneiden, so wie wir es aus der Zwei- und Drei-Sterne-Gastronomie von früher kannten», erinnert sich Küchenchef Christoph Hauser. «Regionales wollen wir in den Mittelpunkt stellen, das Spiessige vergessen, und vor allem unsere Erzeuger kennen», fügt Michael Köhle hinzu. «Wenn der Bauer nun kommt und sagt, seine Ziegen werden geschlachtet, sagen wir: ‹Super, dann nehmen wir eine ganze Ziege. Und aus der ganzen Schlachtung heraus alle Köpfe und alle Innereien.› Gleiches passiert beim Jäger: Von den Wildschweinen nehmen wir alle Zungen, Nieren oder Lebern und verarbeiten sie weiter», erzählt Köhle. Oft teilen sich die Inhaber das Fleisch mit anderen Gastronomen – ein Tier am Stück zu kaufen, sei auch wirtschaftlich viel klüger.
Die Teile werden geräuchert, paniert, gedünstet, gebraten oder zu Wurst verarbeitet. «Wenn der Gast das möchte, können wir auch acht Gänge mit Innereien servieren», sagt Christoph Hauser. Mögliche Variationen: rosa gebratene Leber mit Haselnuss-Eis, hausgemachte Zungenwurst mit Zwiebel-Chutney, Kalbskutteln in Chorizosud mit Hechtwurst und Blutbrot, Lammbries mit Sellerie oder geräuchertes Rinderherz mit Randeneis.
«Man darf als Koch keine Angst haben. Ich ging spontan zu einem Metzger und arbeitete drei Monate bei ihm. Danach ging es ans Ausprobieren. Ich wühlte in Rezeptbüchern, stiess in einem 200 Jahre alten Buch beispielsweise auf die Milzwurst. Ich kochte das Gericht Dutzende Male, änderte es ab – und so servieren wir heute die Milzrolle: scharf angebratene, gewolfte Milz mit Ei, Semmelbröseln und Gewürzen im Kunstdarm. Neugier ist das Wichtigste. Und Mut», weiss Hauser. Ihre «mutigen» Rezeptideen verarbeiteten die beiden Gastronomen kürzlich im eigenen «Herz & Niere»-Kochbuch, herausgegeben vom Tre Torri Verlag.
Die beiden Gründer hören «Nose-to-Tail» nicht gern. Zumindest nicht, wenn es inkonsequent als szeniges Trendwort gebraucht wird. Hauser: «Es ist kein Trend. Wir sehen das Tier als Ganzes, es gibt keine vermeintlich edlen und minderwertigen Stücke oder Reste. Wir passen uns komplett der Natur und dem Vorrat an, ein Menü gibt es nicht.» So kann es vorkommen, dass die ersten sechs Gäste einen Teil vom Wildschwein bekommen, während die anderen Tische die ersten Stücke vom Rind haben. Hauser erinnert sich: «Nicht anders wurde das früher gemacht. Wir bieten im Prinzip ursprüngliche deutsche Küche an. Klar, gibt’s auch mal ein Schäumchen oder ein Gel dazu, dennoch holen wir quasi zu einem Teil die Seele der ursprünglichen Küche in die Moderne zurück.»
Ein A-la-carte-Menü gibt es im Restaurant nicht, lediglich ein Überraschungsmenü von vier bis acht Gängen. Nur so liesse sich brutal auf Saisonalität eingehen. «Der Gast soll sehen, was in der Küche über das Jahr hinweg passiert, dass sich die Produkte ändern», erklärt der Gastgeber. Küchenchef Hauser fügt lachend hinzu: «Wir können den Frühling kaum erwarten. Kohl, Karotten und Wurzeln in allen Variationen können wir langsam nicht mehr sehen.» Eingelegtes, das sie selbst sammeln, rettet sie über die Wintermonate hinweg. Bohnen, Hagebutten, Sanddorn, Mirabellen oder Löwenzahnknospen warten in Weckgläsern auf ihren Auftritt. Genau wie verschiedene selbstgemachte Essigsorten oder Säfte, die die beiden im Herbst pressen. Alles stammt aus der Umgebung Berlins und Potsdams. Im Aperitiv, in Pralinen, als Beilage oder in Saucen kommt ihr Eingelegtes ins Spiel. Meist überbrücken die Gastgeber so ein Jahr mithilfe ihrer Vorräte. Hauser nimmt’s leicht: «Frisches Obst ist momentan kein Thema. Im Dessert servieren wir zurzeit eine Variation aus Schwarzwurzel und Karotte mit Kürbiseis, Mohn und eingelegten Haselnüssen.»
Ob man Innereien, Fleisch, Fisch oder ein vegetarisches Menü bestellt, entscheidet der Gast selbst. Ein Drittel der Gäste wählt mittlerweile das vegetarische Menü. Auch dort gilt: «Leaf-to-Root». «Einen Kürbis schälen wir, die Schalen werden entsaftet und zur Sauce verarbeitet. Die Reste verbacken wir im Brot. Aus den Kernen machen wir ein Eis. Und der Kürbis selbst wird als vegetarisches Gericht serviert», so Hauser. «Unser Konzept funktioniert nur, weil wir alle Produkte kompromisslos verarbeiten. Sollten wir doch Abfall produzieren, verwerten wir ihn auf unserem Acker», erzählt Köhle.
Eine halbe Stunde entfernt haben sich die beiden Gastronomen einen Acker zugelegt. Auf 150 Quadratmetern forschen, tüfteln und ernten sie. «Uns interessiert, was mit einer Pflanze passiert, wenn man ihr kürzer oder länger Zeit zum Wachsen gibt. Wie verändert sich der Geschmack und die Konsistenz?», fragt sich Hauser. Lediglich fünf bis zehn Prozent ihres Bedarfs decken sie mit den eigenen Erzeugnissen. Was sie jedoch dabei lernten, ist viel wichtiger: Wertschätzung. «Eine Karotte, die man eingebuddelt, gegossen und geernet hat, schneidet man nicht einfach oben und unten ab. Ich geniesse es, sie zu bürsten, zu schälen und zu verarbeiten», erzählt Hauser. Eine fast romantische Beziehung scheint er zu den Produkten aufgebaut zu haben – die Grundlage für seine Küche.
Die beiden Gastronomen erzeugen Geschichten und erzählen sie weiter. «Unsere Kuh Claudi war 16 Jahre alt, hat 13 Kälber zur Welt gebracht. Wir verwerteten ihr tolles Fleisch, was einen wunderbaren Eigengeschmack hat. Das erzählten wir auch den Gästen», erinnert sich Michael Köhle. Die Reaktionen? «Einige waren erschrocken und bekamen keinen Bissen mehr runter. Empört darüber, dass ich das Tier beim Namen nenne. Dort findet jedoch der Denkanstoss statt. Dass das Tier ein Lebewesen war und kein anonymes Stück Fleisch, das wir aus dem Supermarkt kauften. Sie hatte ein tolles Leben und landete nicht in der Fleischverwertung, was bei älteren Tieren oft passiere».
Im Betrieb findet viel Kommunikation statt, «es sind Geschichten, die es wert sind, weitergetragen zu werden. Wir öffnen ein Fenster, durch das man eine andere Sicht auf Konsum und Genuss bekommt», weiss Köhle. «Erziehen wollen wir den Gast nicht. Doch wenn wir es schaffen, dass von 40 Gästen fünf nach Hause gehen und es verstanden haben, haben wir ein Stück Berlin verändert.»
(Anna Shemyakova)
«Einfach ausprobieren», sagt «Herz & Niere»- Küchenchef Christoph Hauser. Dennoch einige Tipps: Schlachtfrische Nieren muss man nicht wässern, einfach rosa braten, panieren oder frittieren. Schmort man ein Herz, geht der Eigengeschmack verloren. Hauser gart es bei niedriger Temperatur, brät es kurz an oder schneidet es dünn auf. Eignet sich geräuchert als Vorspeise.
Weinempfehlung von Sommelier Michael Köhle: weisse und rote Burgundersorten oder trockener Riesling passen sehr gut, Tanninreicher Cabernet ist ungeeignet.
«Herz & Niere»
Fichtestrasse 31
10967 Berlin
Tel. +49 30 69001522