Früher hatte jedes Haus, das etwas auf sich hielt, einen Caviste. Er hütete den «Hotelschatz».
Im Märchen bewacht der Drache den Schatz. In gehobenen Hotels und Restaurants fiel diese Aufgabe dem Caviste zu. Der Schatz, den der Kellermeister zu behüten hatte, bestand nicht aus Edelsteinen, sondern aus Edelweinen. Der Wert dieses Schatzes betrug oft mehrere Millionen Franken. Das zeigen die handgeschriebenen Inventarlisten aus diversen Grandhotels um 1900. «Es ist gewaltig, was die Hotels damals für Kapital im Keller gebunden hatten», sagt Evelyne Lüthi-Graf. Die Geschäftsleiterin des Hotelarchivs Schweiz zählt ein paar Posten aus einem alten Kellerinventar des «Kulm», St. Moritz, auf:
Dieser Auszug stammt aus dem Saisonabschluss-Inventar vom April 1892. Für die Wintersaison 1893 stockte der Kellermeister des «Kulm» die Bestände neben weiteren Flaschenweinen und Spirituosen auch mit 30 Fässern Wein auf. Das kleinste davon enthielt 800 Liter Sandrio, das grösste 4100 Liter Tischwein.
Bei akuter Geldknappheit wurde Wein sogar gelegentlich als Zahlungsmittel eingesetzt. Wollte man seinen Wert vermehren, musste der Schatz im Keller sorgfältig verwaltet werden. Dafür sorgte der Caviste, ein Mann von höchster Integrität. Er musste viel von Wein und Spirituosen verstehen, durfte ihrem Konsum aber nicht verfallen sein. «Spucken, nicht schlucken», hiess die Devise.
Bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts gehörte der Caviste zum festen Mitarbeiterstamm eines gehobenen Hotels oder Restaurants. Oft war er einer der wenigen Jahresangestellten, denn der Wein musste auch in der Zwischensaison betreut bleiben. Der Kellermeister war nicht bloss für den Einkauf und die korrekte Lagerung der Weine zuständig. Er füllte auch den Rebensaft aus den Fässern in Flaschen ab, verkorkte und etikettierte diese. Restbestände schüttete er zusammen und machte daraus Weinessig für die Küche. «Aus alten Bestelllisten wissen wir, dass Hotels wie das Kulm oder das Palace St. Moritz nur Balsamico einkauften, den restlichen Essig aber selber ansetzten», bestätigt die Leiterin des Hotelarchivs Schweiz.
Der Kellermeister arbeitete eng mit dem Sommelier zusammen. Während dieser dem Serviceteam angehörte, zählte der Caviste zur Küchenequipe. In kleineren Betrieben wurden die Aufgaben von Caviste und Sommelier oft von derselben Person wahrgenommen.
Der Sommelier musste seine Gäste gut kennen, um vorhersehen zu können, welche Weine in etwa welcher Menge zum Mittag- oder Abendessen konsumiert werden würden. Dieser Einschätzung entsprechend stellte der Caviste dann die Weine bereit. Das bedeutete, dass er jeden Wein auf die für die jeweilige Sorte perfekte Trinktemperatur bringen musste. Ausserdem musste er ihn rechtzeitig dekantieren, damit der Wein bis zum Zeitpunkt des Servierens sein volles Bouquet entfalten konnte.
Sein Arbeitsort, der Weinkeller, war ein Hochsicherheitstrakt. Wer etwas vom Caviste wollte, musste die Glocke läuten, die aus-sen an der Kellertür angebracht war und etwas Geduld haben, bis das Guckfensterchen in der Tür geöffnet wurde. Die Tür selber blieb jedoch verschlossen.
Ob ein Koch Wein für die Saucen brauchte oder ein Kellner für Tisch fünf eine Flasche Champagner holen musste – ohne Bon mit Unterschrift des Küchenchefs oder des Maître d’hôtel rückte der Caviste keinen seiner Schätze heraus. Kein Wunder, denn fehlende Flaschen musste der Kellermeister aus eigener Tasche bezahlen. Die edlen Tropfen kosteten meistens mehr, als er verdiente.
Ebenso erging es dem Sommelier. Deshalb hatte auch er einen abschliessbaren Weinschrank. Dort verwahrte er die angefangenen Flaschen Wein und Spirituosen der Gäste. Mit einem Strich markierte er den Stand des Inhalts. Falls nötig konnte er so nachweisen, dass niemand unerlaubterweise vom Wein getrunken hatte. Was Commis gerne taten, denn von ihren kleinen Löhnen konnten sie sich selber keine edlen Tropfen leisten.
Die Sitte, dem Gast die bestellte Flasche Wein vor dem Öffnen zu präsentieren, geht auf die Haftbarmachung des Sommeliers und Caviste zurück. Durch das Zeigen der Flasche konnte elegant kontrolliert werden, ob dies wirklich der Wein war, den der Gast wollte. Denn auch für geöffnete, vom Gast jedoch verschmähte Weine musste das Wein-Dream-Team geradestehen.
(Riccarda Frei)