Jedes Gewürz hat Charakter. Richtig kombiniert, transportiert man mit einem Zusammenspiel der Aromen Erinnerungen, erweckt Geschichten zum Leben und regt die Fantasie des Gastes an.
Jede Zutat ist ein Gewürz, ein Zusammenspiel aus Aromen. «Es geht darum, die perfekte Balance zu finden, aus der eine neue Würze entsteht», sagt Alexandros Nicolaides. Er verbindet nicht einfach die Komponenten, er mischt Erinnerungen, Sinnlichkeit und Neugierde, indem er sie in Form eines Cocktails zum Leben erweckt. «Man verleibt sich die Geschichte wortwörtlich ein», erzählt der Barkeeper.
So materialisiert er Kindheitserinnerungen wie die folgende Episode: «Ich roch immer am Parfumfläschchen meiner Mutter – Patchouli, das Ausgehparfum der 70er-Jahre – und fand es schrecklich. Später erinnerte es mich jedoch an die schönen Momente mit ihr. Ich pickte die angenehmen Aromen heraus und experimentierte an einem Sirup.» So entstand ein Cocktail, für den Nicolaides keinen Namen fand. «The Nameless Cocktail» sollte es werden: Der dunkle Rum vermischt sich mit der Farbe des Patchouli-Sirups, die Limette erzeugt eine frische Kälte, ein bitterer Kräuterlikör rundet den Geschmackshorizont ab. Ein entflammter Thymianzweig komplettiert die namenlose Kreation und ist nicht bloss Dekoration, sondern Camouflage für das Darunterliegende: «Der Mensch soll mit allen Sinnen schmecken. Der wichtigste Sinn ist und bleibt jedoch die Fantasie. Man riecht Thymian, schmeckt Patchouli und Rum, die erdigen Klänge und die Tiefe. Als würde man den Boden trinken, auf dem der Thymian gewachsen ist.»
Nicolaides fordert den Gast gern heraus. So serviert er Cocktails auch mal in Teeschalen. «Ich möchte die Art verändern, wie der Mensch ein Getränk wahrnimmt. Ein ungewohntes Erscheinungsbild macht aufmerksam und lässt das Getränk sinnlicher erleben.»
In der Zürcher Hato Bar, wo Nicolaides zuvor arbeitete, schuf er ein Spiel der vier Elemente. Er servierte Cocktails «mit Regen» und sprühte dazu eine Essenz in die Luft – eine Art Parfum, das die Aura des Getränkes in den Raum trägt. «Es soll ein Erlebnis auf vielen Ebenen sein. Manchmal aromatisiere ich Gläser, indem ich Öl auf dem Stiel verteile. Für die Gäste ein ungewohntes Erlebnis: Ihre Hände werden Teil der Kreation, wenn sie an ihnen riechen.
Neugier bewegt die Phantasie, regt an und macht aufmerksamer. Man vergisst zu oft, die Sinnlichkeit der Aromen wahrzunehmen», erzählt der 35-Jährige. Geschichten erzählen zu können, macht Gastronomen zu Künstlern. Die Erzählung zu geniessen, gelingt dem Publikum jedoch nur, wenn es sich voll und ganz darauf einlässt. «Auch der Mensch selbst, seine Stimmung oder seine Charakterzüge würzen das Getränk. Ist das Gemüt bitter, wird auch der Drink herber wahrgenommen», erläutert Nicolaides. Umso wichtiger ist es für ihn, dem Gast mit dem ersten Schluck klare Bilder vor Augen zu führen: «Ich wollte einen Cocktail kreieren, der die Sonne trinkbar macht – einen, der das Paradies zeigt.» Für «The Hair of Amaterasu» machte sich Nicolaides auf die Suche nach paradiesischen Aromen und fand sie in der südostasiatischen Blume Ylang-Ylang. Das ätherische Öl vermischt er mit lieblich roter Farbe der Kirschen, um die Verbindung zu Japan und seiner Sonnenkönigin «Amaterasu» herzustellen. Der Name istgeboren. Hinzu kommt ein Elixier aus weissem Traubensaft, Orangenblütenwasser, Bergamottesaft, Jasmin, Wodka und Koriander für die klare Frische. Goldflocken symbolisieren die Sonnenstrahlen. «Man riecht am Cocktail und sieht sofort die Sonne vor Augen – das schwebte mir in meiner Fantasie vor», erklärt Alexandros Nicolaides.
Gewürze sind nicht nur Genussmittel, sie sind auch Medizin. Richtig dosiert, heilen sie. Falsch dosiert, können sie gefährlich werden. Muskatnuss enthält Halluzinogene, cumarinhaltiger Zimt wirkt leberschädigend und Safran ist in hohen Dosen tödlich. «Mit ätherischen Ölen zu arbeiten, bedarf viel Wissen. Am besten spricht man mit spezialisierten Apothekern und Leuten vom Fach. Die Dosis macht das Gift, und die muss man kennen», so Nicolaides.
Ein Lehrgang der Genussakademie Bayern setzt genau dort an: Er beschreibt die Gesundheitswirkung verschiedener Gewürze, deren Herkunft und Aromatik, wie man sie kombiniert, erkennt und anbaut. Besteht man die Prüfung, darf man sich «Gewürzsommelier» nennen. Einer von ihnen ist Frank Stübinger. Der Gastgeber in der Wirtshausbrauerei Kommunbräu im fränkischen Kulmbach absolvierte den Kurs als einer der Ersten: «Mir ging es darum, Vertrautem mithilfe von Gewürzen einen neuen Reiz zu geben. Wir servieren gutbürgerliche Hausmannskost – ich wollte das Beständige neu interpretieren.»
Das Beständige fand Stübinger in seiner Brauerei: «Zuerst nahm ich die Bestandteile unserer Biere auseinander. Malz ist karamellig und blumig. Ich kombiniere diese süssen Momente zu Tafelspitz in Form einer Biersauce.» Die Zuckeraromen des Wurzelgemüses greift er in einer Bernsteinbiervinaigrette auf. «Zudem fand ich einen roten Pfeffer, der eher fruchtig schmeckt. Er passt sich perfekt an und verleiht eine leichte Schärfe», sagt der 47-Jährige.
Wenn Stübinger von der Zusammensetzung der Aromen spricht, wird es schnell chemisch – schon fast molekular. «So theoretisch soll es nicht klingen. Ich habe die Gewürze als eine Art Landkarte im Kopf», vereinfacht er. Und doch sind für ihn alle Aromen – egal ob stechend, bitter, oder blumig – eine sinnliche Begegnung mit Molekularstrukturen: «Man soll die Chemie eben schmecken.»
(Anna Shemyakova)