«Virtual Reality»-Erlebnisse sind mehr als eine Spielerei. Gerade im Tourismus können sie neue Zielgruppen erschliessen. Grund für einen Blick auf die vielfältigen Einsatzbereiche.
Lange kannte man Virtual Reality (VR) vor allem aus dem Spielebereich. Die Spieler setzen sich eine VR-Brille auf, um in andere Welten einzutauchen, die vollständig computergeneriert und dreidimensional sind. Es besteht die Möglichkeit, mit virtuellen Elementen und realen Personen – die durch Avatare dargestellt werden – zu interagieren. Zum Beispiel, um die Mitspieler virtuell abzuschiessen oder um in virtuellen Welten auf Schatzsuche zu gehen.
Immer mehr zeigt sich nun, dass Virtual Reality auch ausserhalb der Gaming-Welt praktische Einsatzmöglichkeiten hat. Gerade die Tourismusbranche entdeckt die Technik langsam für sich. Tourismusexperte Thomas Aichner (siehe Interview Seite 7)ist sich sicher: «Virtual Reality wird einen Platz in der Tourismusbranche finden. Die Technik kann den traditionellen Tourismus sicher nicht ersetzen, aber gezielt ergänzen.»
Thomas Aichner ist Mitautor der Studie «Virtual Reality im Tourismus», die Ende 2018 erschien. Obwohl die Studie drei Jahre alt ist, sieht Aichner die vorhergesagten Entwicklungen bestätigt. «Es scheint sich eine langsamere Entwicklung abzuzeichnen als prophezeit. Doch die vielen Angebote, die seither entstanden sind, bestätigen unsere Voraussagen.»
Eine wichtige Einsatzmöglichkeit von Virtual Reality im Tourismus sieht Aichner beim Entscheidungsfindungsprozess der Gäste. Wer vor Antreten einer Reise einen virtuellen Blick auf das Urlaubsziel werfen kann, entscheidet sich eher für eine Buchung. Denn das Risiko, vor Ort enttäuscht zu werden, wird verringert. Und fehlte es vor einigen Jahren meist noch an touristischem Filmmaterial für Virtual-Reality-Vorführungen, ist dieses heute dank günstigerer Produktionsmöglichkeiten immer öfter bereits vorhanden.
Auch im Bildungsbereich könne VR eingesetzt werden. Beispielsweise, indem ein Lehrer mit seinen Schülern einen virtuellen Ausflug nach Venedig macht, anstatt nur Bilder oder Videos von den Kanälen und Gondeln zu zeigen. «Ein solches Erlebnis ist einfach zu organisieren und kann im Gegensatz zu einer echten Reise auch nur 30 Minuten dauern», erklärt Aichner. Er ist überzeugt: «Häufig wächst bei einer solchen Gelegenheit auch der Wunsch, die Stadt irgendwann tatsächlich zu besuchen. Dadurch ergeben sich auch Vorteile für die traditionelle Tourismusbranche.» Virtual Reality stelle zudem eine Chance für Menschen dar, welche aufgrund ihrer finanziellen oder gesundheitlichen Situation nicht reisen können. Wer keine Chance hat, selbst nach New York zu reisen, könnte den Ausblick vom Empire State Building künftig zumindest virtuell geniessen.
«Eine weitere Einsatzmöglichkeit ist die virtuelle Reise in eine andere Zeit», fügt Thomas Aichner an. «Stellen Sie sich vor, Sie könnten Zürich im Jahr 1890 besuchen, durch die Strassen spazieren und den Markt oder eine Gaststätte besuchen.» Durch das Hinzufügen der zeitlichen Dimension würden sich auch für gewinnorientierte Unternehmen im Tourismusbereich völlig neue Geschäftsfelder ergeben.
Immer öfter trifft man auch im Schweizer Tourismus auf Virtual-Reality-Anwendungen. So lässt zum Beispiel Zermatt Tourismus in Kooperation mit Red Bull im Verkehrshaus Luzern Gäste virtuell das Matterhorn besteigen. Eine ideale Werbeplattform, sagt Sabrina Marcolin, Mediensprecherin von Zermatt Tourismus: «Das Matterhorn zu besteigen, bleibt für viele ein unerfüllter Traum. Dank der Attraktion im Verkehrshaus wird dieser Traum nun realisierbar.» Der Standort Luzern sei zudem optimal für ein solches Projekt: «Die Stadt lebt vom Tourismus. Die Destination Zermatt– Matterhorn hat dank des Projekts ‹Red Bull The Edge – Matterhorn VR› die Möglichkeit, sich in der Zentralschweiz bemerkbar zu machen.» Weiter zeige das Projekt den Besuchern, dass Innovation in Zermatt grossgeschrieben werde und man bemüht sei, sich stetig weiterzuentwickeln.
Gemäss Red Bull sind die Reaktionen der Gäste auf das VR-Erlebnis auch durchwegs positiv: «Viele sind überrascht, wie realistisch die virtuelle Realität wirkt. Selbst Zermatter Bergführerinnen und Bergführer, die schon x-mal auf dem Matterhorn waren, sind von der Umsetzung beeindruckt», schreibt das Unternehmen auf Anfrage. Um das perfekte Erlebnis zu kreieren, benötigt es neben moderner Tracking-Technologie und einer VR-Brille auch eine Windsimulation und eine authentische Geräuschkulisse, um die virtuelle Welt so realistisch wie möglich wirken zu lassen.
Neben der Zusammenarbeit mit dem Verkehrshaus Luzern und Red Bull gibt es in der Destination Zermatt weitere VR-Anwendungen. So setzt die neue Erlebniswelt auf dem Gornergrat auf eine Symbiose von Virtual Reality und echten Erlebnissen. «Das Erlebnis ‹Zooom The Matterhorn› ist eine einmalige, multimediale Welt rund um das Matterhorn, in der sich Besucherinnen und Besucher dem Matterhorn in drei Zoomstufen nähern», erklärt Barbara Truffer, Leiterin Marketingkommunikation Matterhorn Gotthard Bahn.
In der ersten Stufe richtet sich der Blick auf das reale Matterhorn und die umgebende Bergwelt. Mit Periskopen lässt sich diese ganz nah heranholen. «Grafische Ankerpunkte im Blickfeld der Besucherinnen und Besucher liefern ergänzende Informationen zum jeweiligen Thema», erklärt Truffer. Zoomstufe zwei ist ein immersi-ves Zwölf-Meter-3D-Kino, und die dritte Stufe bietet eine Auswahl zwischen zwei virtuellen Gleitschirmflügen – einem entspannten Panoramaflug und einem erlebnisreichen, sportlichen Flug. Beide werden mit 3D-Brille in schwebenden Sesseln absolviert.
Virtuelle Welten spielen auch in der Destination St. Moritz eine Rolle. Mit der Augmented-Reality-App Winterolymp können Besucher an dem Ort, an dem die bisher einzigen Olympischen Winterspiele der Schweiz stattfanden, mit der Vergangenheit digital interagieren. So erfahren die Besucherinnen und Besucher spielerisch vieles über die bewegte Geschichte des St. Moritzer Hausbergs Corviglia. Zum Beispiel, wie Johannes Badrutt Mitte des 19. Jahrhunderts den Wintertourismus in Gang setzte oder welche Persönlichkeiten die St. Moritzer Skigeschichte prägten.
Wieso setzt man dafür auf virtuelle Erlebnisse? «Ziel ist es, den Gästen ein zusätzliches Erlebnis zu bieten, in welchem sie in eine andere, erweiterte Welt eintauchen können», erklärt Michael Kirchner, der das Projekt als ehemaliger Leiter Kommunikation und Verkauf der Engadin St. Moritz Mountains AG mitaufgebaut hat. Und auch finanziell gibt es Vorteile: «In der Regel sind ‹Real life›-Projekte sowohl im Aufbau als auch im Unterhalt teurer.»
Kirchner betont aber, dass es sich meist nur um ergänzende Angebote handelt, welche die Positionierung der Anbieter unterstreichen, aber derzeit noch nicht so oft genutzt werden wie herkömmliche Angebote. Dennoch glaubt er an das Potenzial von virtuellen Erlebnissen im Tourismus: «Als Zusatzangebot ist das eine spannende Sache. Zudem haben sich Virtual und Augmented Reality im Alltag vieler bereits etabliert.» Künftig ist also damit zu rechnen, dass die virtuelle Welt eine immer grössere Rolle in unserem Alltag spielen wird – auch im Tourismus.
Dass Virtual Reality im Tourismus Zukunft hat, davon ist man auch in Zermatt überzeugt. «Mehrere Studien zeigen bereits auf, dass das Interesse der Gäste an virtuellen Reisen mit VR-Brille steigt und sie sich auch für neue Technologien zur Ergänzung eines Produktes interessieren», sagt Barbara Truffer. «Diesen Bedürfnissen der Gäste gilt es gerecht zu werden und das Angebot auf den jeweiligen Märkten anzupassen.» Das Pulsfühlen in der Tourismusbranche zeigt: Es dauert vielleicht etwas länger als gedacht, aber der VR-Siegeszug ist nicht mehr aufzuhalten.
(Angela Hüppi)
Der Birdly Flugsimulator ist mit hochauflösender Virtual Reality- und Robotertechnologie ausgestattet. So ermöglicht er den Nutzern ein freies Flugerlebnis beispielsweise über die Zürcher Bahnhofstrasse, an Berggipfeln entlang oder vorbei an den Wolkenkratzern New Yorks. Das Erlebnis soll nicht nur neue Perspektiven eröffnen, sondern auch Emotionen wecken. Der Flugsimulator der Zürcher Firma Somniacs ist weltweit an verschiedenen Standorten zu finden, unter anderem in Hotels, der Gastronomie sowie an touristischen Hotspots.birdly.com
Das Schloss Tratzberg im österreichischen Jenbach lädt zu einer Zeitreise ins Jahr 1492 ein. Dank einer VR-Brille erleben die Gäste hautnah, wie die alte Burganlage abbrennt und das neue Schloss entsteht. Ein nächtlicher Rundflug über das romantisch beleuchtete Renaissance-Juwel soll den Gästen ein Abenteuer bieten, welches sie so schnell nicht mehr vergessen. Das VR-Erlebnis ersetzt die bisherige geschichtliche Einführung der beliebten Schlosstour. Für Kinder gibt es eine eigene VR-Märchenführung, ohne dass sie von ihrer Begleitperson getrennt werden.schloss-tratzberg.at
Der auf den Norden spezialisierte Reiseveranstalter Kontiki setzt VR-Brillen ein, um den Kunden einen Einblick in nordische Landschaften und Erlebnisse zu geben. Mit den speziell aufbereiteten Filmen erleben die Kunden das Flackern der Nordlichter am Himmel, das Tapsen der Schlittenhunde im Schnee sowie den Blick in die Weiten der winterlichen Schneelandschaft. Weiter kann das Blockhaus vor der Buchung von der Sauna über das Schlafzimmer bis zum Wohnzimmer inspiziert werden. Die VR-Brillen stehen den Kunden in 15 Filialen in der Schweiz zur Verfügung, werden aber vor allem auch an Messen und Events eingesetzt. kontiki.ch
Lange handelte es sich bei VR-Anwendungen eher um Spielereien. Glauben Sie, dass sich die Technik im Alltag etablieren wird?
Es gab in der Vergangenheit mehrere gescheiterte Versuche, virtuelle Welten zu etablieren. Es ist zu erwarten, dass Virtual Reality einen Nischenplatz in der Tourismusbranche finden wird. Gemäss unserer Studie gehen Tourismus-Experten davon aus, dass Virtual Reality in Zukunft vermehrt für die Buchung von Reisen und Beherbergungsbetrieben genutzt wird.
Besteht die Gefahr, dass gewisse Attraktionen künftig nur noch virtuell besucht werden?
Diese Angst ist unbegründet. Aufgrund unserer Forschungsergebnisse ist eher davon auszugehen, dass Virtual Reality das bestehende Angebot ergänzt und sich neue Zielgruppen erschliessen lassen. Jemand, der Machu Picchu virtuell 30 Minuten lang erkundet und dafür einige Franken bezahlt, hätte die Reise nach Peru wohl sowieso nicht auf sich genommen. Es ergibt sich allerdings die Möglichkeit, gefahrenlos bestimmte touristische Ziele in Krisengebieten zu erkunden, etwa die Krak des Chevaliers in Syrien.
Welchen Einfluss hat die Corona-Krise auf die Bedeutung von Virtual Reality?
Einige Studien geben Hinweise darauf, dass Konsumenten sich seit Beginn der Pandemie offener für Virtual Reality zeigen als vorher. Tatsächlich sind die Verkäufe von VR-Headsets und VR-Software seit 2020 überdurchschnittlich stark gestiegen und auch das touristische Angebot hat sich vergrössert.
Thomas Aichner ist Associate Professor für Marketing an der Alfaisal University in Riad, Saudi-Arabien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Herkunftslandeffekte, kundenindividuelle Massenproduktion und Digital Management, insbesondere Virtual Reality und Social Media.