Gut gesammelt ist halb gekocht

Paolo Casanova ist letztes Jahr von Gault Millau zum ersten Green Chef of the Year gewählt worden. Ein Besuch in Madulain zeigt, wie sehr er sich den Titel verdient hat. Hier eine Auswahl der von ihm verwendeten Kräuter.

Wer mit Paolo Casanova auf Kräutersuche geht, kommt nicht weit. Alle paar Meter bückt sich der Italiener, um ein Kräutchen zu zupfen und gleich dazu eine Geschichte inklusive Rezeptvorschlag zu erzählen. «Ich bin in den Dolomiten aufgewachsen», sagt der in Santo Stefano di Cadore, Venetien, geborene 43-Jährige. «Ich habe die Natur in meiner DNA.» Dass es ihn zusammen mit seiner Familie ins Engadin verschlagen hat, ist Zufall. «Ich wollte mich selbständig machen und bekam mit der ‹Stüva Colani› im bündernischen Madulain eine tolle Chance.»

Der Spitzenkoch verwendet in seiner Küche 80 Bergkräuter aus der Umgebung: Weidenröschen, Sauerampfer, Wilden Salbei, Veilchen, Moos, Brennessel, Spitzwegerich, Hauswurz, Guter Heinrich, also wilder Spinat, und unzählige weitere. «Wer die Kräuter in der Natur sammelt, hat die besten Produkte für seine Küche», so Casanova. «Frischer geht es nicht, zudem sind die Zutaten sehr aromaintensiv», sagt er. «Die Natur liefert uns einfach das Beste!»

Die guten Seiten der Pandemie

Begonnen hat alles während der Pandemie. Eben erst konnte Paolo Casanova sein neues Reich übernehmen und schon musste er – wie viele andere Gastronomen auch – die Türen wieder schliessen. So verbrachte er viel Zeit draussen in der Natur und vertiefte sein Wissen über die Welt der Kräuter. In seinem Herbarium listet er seither alles fein säuberlich von Hand auf mit den lateinischen Namen, den Bezeichnungen auf Italienisch und Deutsch sowie die Familienzugehörigkeit. «Die Liste ist auf 120 Kräuter angewachsen, das genügt», ist Casanova zufrieden.

Auch jetzt, nach Pandemiende, geht Casanova täglich auf die Pirsch, meistens mit seinem Elektro-Mountainbike. Oft wird er bei seinen Ausflügen von einem seiner Mitarbeitenden begleitet. «Doch wer mitkommen will, muss früh aufstehen», sagt er mit einem Schmunzeln. Immer dabei ist sein Rucksack mit Sackmesser, Schere und Plastikschälchen. «In der Natur kann ich abschalten und neue Ideen kreieren», so Casanova.

Keine Angst, beim Pflücken ein giftiges Exemplar zu erwischen? «Diese sind leicht zu erkennen», erwidert er. «Und es geht kein Kraut und keine Pflanze direkt in die Küche», betont der Kräuterkoch. Dabei setzt er auf eine Dreifachkontrolle: «Ich verwende als Erstes eine Erkennungs-App.» Weiter vergleicht er die gefundene Beute mit Bildern und Informationen in entsprechenden Lexika. «Zudem frage ich einen Spezialisten oder eine Fachstelle um Rat, vor allem wenn ich mir unsicher bin.» Erst wenn dies alles geklärt ist, finden Kräuter und Pflanzen ihren Weg in Suppen, Fonds, Saucen, Brühen, Teigwaren und Desserts.

Keinen Raubbau betreiben

Zum Schluss gibt er noch einen Vorfall preis, der ihm kürzlich widerfahren ist. «Wanderer haben mich angesprochen, was ich hier tue. Ich zeigte ihnen, was ich gesammelt habe und wofür ich es verwende.» Kurze Zeit später wurde er vom Förster angehalten. Die Passanten hatten ihn angezeigt. «Doch ich würde nie Raubbau begehen. Es ist wichtig, dass ich immer einen Teil der Pflanze zurücklasse, damit sie sich erholt und ich beim nächsten Mal wieder ernten kann.»

(Ruth Marending)


Brennessel

Die Brennnessel nutzt Paolo Casanova als Basis für verschiedene Risottos, Raviolifüllungen und Suppen. Das Kraut enthält einen Wirkstoff, der Bakterien im Wachstum hemmt. Ausserdem liefert die Pflanze jede Menge Nährstoffe. Neben Mineralien wie Eisen, Magnesium und Kalium enthält sie sogar mehr Vitamin C als Zitrusfrüchte. Brennnesselteile mit einer Teigrolle durchrollen, damit die stechenden Brennhaare zerstört werden oder alles pürieren.

Klee

Klee ist eines der Kräuter, die auf allen Kontinenten verbreitet sind. Ausnahme bilden lediglich Australien und die Antarktis. Klee ist überall zu finden: auf Fettwiesen, Weiden, an Wegrändern und in Gärten. Die Inhaltsstoffe lesen sich wie ein Arzneibeipackzettel: Flavonoide, Phytoöstrogene wie Genistein, Daidzein, Biochanin A und Formononetin, ätherische Öle und Gerbstoffe. Casanova nutzt die Pflanze zur Dekoration oder gibt sie Salaten bei.

Taubenkropf-Leimkraut

In der mediterranen Küche werden die jungen Blätter des Taubenkropf-Leimkrauts als Wildgemüse oder Suppeneinlagen verwendet und im Sommer die zarten Blüten verarbeitet. Zu den Inhaltsstoffen zählen Bitterstoffe, verschiedene Mineralstoffe, Vitamin C, Schleimstoffe und Saponine. Damit Paolo Casanova das Kraut auch später im Jahr verwenden kann, friert er es ein. Er verwendet es für Tempura, Omeletts. Zudem dient es als Basis für Risotto.

Sauerampfer

Sauerampfer lässt sich wie Spinat zubereiten. Besonders bekannt ist die Ampfersuppe in Belgien, Frankreich und Osteuropa. Sie schmeckt sowohl heiss als auch eisgekühlt. Junge Blätter können in Salate geschnitten oder auch an Saucen und Omeletts gegeben werden. Sauerampfer ist eines der sieben Kräuter, die in der Frankfurter Grünen Sauce Verwendung finden. Casanova nutzt das Kraut für Extrakte, Espumas, Sorbets und kalte Brühen.

Guter Heinrich

Der Gute Heinrich ist der wohlschmeckendste Vertreter der Gänsefussgewächse und wird gerne in der Küche verwendet. Er wirkt blutreinigend und leicht abführend. Paolo Casanova hat ihn als Raviolifüllung sowie als Zutat in Suppen und herzhaften Kuchen entdeckt. Zudem nutzt er die Pflanze zur Garnierung der Teller. Casanova gefällt das Kraut vor allem wegen der einfachen Handhabung, da es sich wie Spinat verarbeiten lässt.

Löwenzahn

Ursprünglich in den zentralasiatischen Gebirgen daheim, ist der Löwenzahn heute auf der ganzen nördlichen Halbkugel zu finden. Er blüht zweimal im Jahr, im Mai und im August. Die gelben Blüten und jungen Blätter können roh gegessen werden oder einen Salat aufpeppen. Jung sind die Blätter, bevor aus den Blüten Pusteblumen werden. Sind die Blätter kräftiger, schmecken sie in einem Smoothie. Paolo Casanova macht aus der Pflanze Konfitüren, Tempuras, Mayonnaise und Desserts.

Weidenröschen

Weidenröschen gehören zu den Kräutern, die sich leicht ernten und vielseitg in der Küche verwenden lassen. Paolo Casanova macht aus dem Kraut Tee oder stellt daraus Gelatine her. Sind die Sprossen noch klein, verwendet er sie als Garnitur. Weidenröschen schmecken zart und mild und verfügen wie viele Wildkräuter über viel gesundheitliches Potenzial. In frischen Blättern ist mehr als 200 Milligramm Vitamin C pro 100 Gramm enthalten.

Spitzwegerich

Der Spitzwegerich trägt seinen Namen Wegerich zu Recht, denn das Wort bedeutet Wegekönig oder Wegehüter. So ist das Kraut denn oft an Wegesrändern zu finden. Aber auch auf Wiesen gedeiht die Heilpflanze gut. Die Blüten sind essbar und erinnern an Pilze. Die Samen haben ein nussiges Aroma und und wirken verdauungsfördernd. Paolo Casanova fermentiert den Wegerich, verwendet ihn als Garnitur oder serviert ihn als gekochten Salat.

Wilder Salbei

Der Wilde Salbei kommt in Europa bis zu 1600 Metern über dem Meeresspiegel vor. In der Küche lässt er sich wie sein Verwandter, der Echten Salbei, verwenden. Sein mildes Aroma wird gerne für Fischgerichte benutzt. Auch die aromatischen Blüten passen als Salatbeigabe oder als Dekoration für Süssspeisen. Casanova frittiert den Salbei, der sich dann wie ein Chip essen lässt. Oder er stellt daraus Pulver her, das er zum Beispiel Keksen beigibt.