Am grössten Kulinarikkongress Spaniens, der Madrid Fusión, trafen sich Gastronominnen und Spitzenköche, die neue Wege gehen. Sei es im Kampf gegen die Wasserknappheit, beim Bewahren alter Sorten und Traditionen oder beim Entdecken bahnbrechender Methoden und Technologien. Sie wollen eine nachhaltigere Branche, beeindruckendere Gästeerlebnisse, nie dagewesene kulinarische Höhepunkte. Dieser Beitrag fasst einige Beispiele ihrer eindrücklichen Arbeit zusammen.
Man kennt ihn auch als den «Koch des Meeres»: Der mit drei Michelinsternen ausgezeichnete Spanier Ángel León bringt in seinem Restaurant Aponiente in Cádiz seit jeher ungeahnte Schätze aus dem Atlantik auf den Teller. Dieses Jahr geht er dabei noch einen Schritt weiter und stellt das Wasser selbst in den Mittelpunkt. In Spanien ist die Knappheit dieser essenziellen Ressource allgegenwärtig. «Es ist das aufregendste Projekt meines Lebens», sagte Ángel León während seines Vortrags an der Madrid Fusión. Nie habe er gedacht, dass er so weit kommen würde. So wird das «Aponiente», das in einer alten Seemühle direkt am Wasser liegt, kein Süsswasser mehr benötigen. Mit einem System, das aufgrund von Nanotechnologie das Meerwasser desinfiziert, kann er dieses zum Kochen verwenden. Eine Entsalzungsanlage ersetzt ausserdem die Frischwasserversorgung. Doch damit nicht genug: León und sein Team fanden Wege, um das Meerwasser in verschiedenen Texturen essbar zu machen. Dabei machen sie sich zwei Maschinen zu Nutze, die im asiatischen Raum für eine Art Slushed Ice verwendet werden. Im «Aponiente» entstehen so spannende neue Texturen in der salzigen Welt: Engelshaar aus einer TintenfischInfusion oder ein eisiges Pulver aus Schwertmuscheln. In einer Blase, gefüllt mit Plankton-Rauch, macht Ángel León sogar die Meeresbrise für seine Gäste essbar.
Auf der norwegischen Inselgruppe Svalbard, auf Deutsch auch Spitzbergen genannt, befindet sich ein ganz besonderer Ort. Im so genannten Global Seed Vault lagern über eine Million Samenproben von Pflanzen aus aller Welt. «Es gibt über 30 000 essbare Pflanzen. Wir essen nur 150 davon, und 60 Prozent unserer Kalorien kommen von vier Pflanzen», sagte Lise Lykke Steffensen, Geschäftsführerin des nordischen Zentrums für genetische Ressourcen. Seit 1930 seien beispielsweise 80 Prozent der Maisvielfalt in Mexiko verschwunden. «Die Gastronomie kann viel tun gegen das Aussterben alter Sorten», wandte sie sich an die Anwesenden. Der spanische Dreisternekoch Joan Roca, der mit ihr auf der Bühne stand, hat die genetische Datenbank besucht und sich dort inspirieren lassen. «Wir verlieren viele Arten und damit auch viel Wissen», sagte er, «jetzt ist es Zeit, auf die Erde achtzugeben.» Auf einer kleinen Farm, die zum Familienbetrieb El Celler de Can Roca in Girona gehört, baut er auch vergessene Sorten an. Zudem ist Roca Teil des Projekts Tierra Animada, das die Pflanzenvielfalt der Region katalogisiert und festhält, wofür sie genutzt werden kann. «Diese Informationen geben wir weiter, damit sie nicht verloren gehen.»
Auch beim valencianischen Zweisternekoch Ricard Camarena ist das Thema Wasserknappheit präsent. Sein Ansatz ist, die in Produkten wie Tomaten enthaltene Feuchtigkeit bestmöglich zu nutzen und auf verschiedene Arten aufzuwerten. So gibt es im Restaurant Ricard Camarena einen hausgemachten Tomatensaft oder ein Getränk aus Tomatenwasser, Pilzen, Kombu-Algen, Bonitoflocken und Sardellen-Gräten. «So etwas findet man in keinem anderen Restaurant», so Camarena. «Unser Ziel ist, innovativ zu sein und dabei Dinge zu kreieren, die auch einen Nutzen haben.» Ein weiteres Nebenprodukt ist eine Art Tomaten-Garum, eine dichte und intensive Sauce, die er unter anderem zum Verfeinern seiner Brühen verwendet.Ein weiterer Referent an der Madrid Fusión fokussiert sein Interesse auf die Verwertbarkeit von Pilzen, die als zu gross oder zu reif angesehen und deshalb entsorgt werden. «Die Eigenschaften dieser Pilze sind aus gastronomischer Sicht sehr interessant», sagte Dani Ochoa vom Restaurant Montia in Madrid. Die emulgierenden Eigenschaften von Pfifferlingen nutzt er, um ein Gelee herzustellen. Mit einem Pulver aus verschiedenen Pilzsorten erschafft er eine Expresspökelung für ein Hirschherz. «Je nach Menge und Art der Pilze entstehen so äusserst interessante Geschmacksrichtungen, von süss bis würzig.»
Dreisternekoch Eneko Atxa vom Restaurant Azurmendi im Baskenland wagte sich jüngst an die künstliche Intelligenz. In einem Experiment testete Atxa vier KI-generierte Gerichte. «Die Bilder haben uns inspiriert, während die Rezepte nicht unseren Erwartungen entsprachen», erzählte er. In einem zweiten Schritt interpretierte das Team die KI-Kreationen neu. Im Prozess habe er festgestellt, dass die künstliche Intelligenz dabei helfen kann, Rezepte schnell anzupassen – beispielsweise an Unverträglichkeiten. «Heute ist KI einfach ein weiteres Tool, mit dem wir arbeiten», so Atxa. Eine weitere Präsentation auf der Madrid-Fusión-Bühne beleuchtete den Einsatz von KI auf der Gäste-Seite. Wie kommt beispielsweise das neue Menü an? Technologie, entwickelt vom spanischen Forschungsinstitut Itainnova, kann weiterhelfen: Eine Kamera in der Mitte des Tisches zeichnet über Gesichtsbewegungen die Emotionen während des Essens auf. Sie misst Überraschung, Missfallen, Anspannung, Fröhlichkeit und Neutralität. «Es hat sich gezeigt, dass es genauso wichtig wie der Geschmack ist, wie ein Gericht und die Zutaten erklärt und präsentiert werden, erläuterte Cristian Palacio, Küchenchef im Restaurant Gente Rara in Zaragoza. Natürlich reagierten nicht alle Menschen gleich. Die Methode könne aber durchaus Aufschluss geben, ob die Emotion so beim Gast ankommt, wie sie vom Küchenteam gedacht war.
«Wir müssen die Geschichte verstehen, bevor wir etwas Neues erschaffen können.» So drückte es der Spitzenkoch und Noma Co-Gründer Mads Refslund in Madrid aus. «Es geht ums Jagen und Sammeln, um das Finden wilder Zutaten in der Natur.» Diese integriert er dann in sein neues New Yorker Restaurant Ilis. Dort spielen Feuer und Handarbeit eine grosse Rolle, die Gerichte kommen mit sehr wenigen Zutaten aus. Gegrillter Aal wird am Holzspiess und mit einer einzelnen Ringelblume serviert. Die gereifte Wildwachtel mit Pilzjus verspeisen die Gäste im neuartigen Restaurantkonzept von Hand. Ebenfalls eine Reise zurück in der Zeit machte das Team des Restaurant Osa ausserhalb von Madrid. «Wir sind 2021 mit alten Rezeptbüchern gestartet», erzählen die Gründer Sara Peral and Jorge Muñoz. Auf der Bühne der Madrid Fusión bereiteten sie Zampone zu, eine gefüllte Schweinekeule, die zugenäht und für einen Monat aufgehängt wird. So verliert sie einiges an Wasser und Fettvolumen. «Wir suchen bewusst nach der Tradition. Wenn die Avantgarde die Tradition nicht verbessert, bleiben wir auf dem alten Weg», sagt Sara Peral.
Innovation wird in der Küche des Dreisternerestaurants Disfrutar in Barcelona ganz grossgeschrieben. Oriol Castro und Eduard Xatruch brachten an der Madrid Fusión eine kleine Auswahl an Techniken mit, an denen ihr Team im letzten Jahr getüftelt hat. Unter anderem die «Gelatina Aereada», zu Deutsch aufgeschäumtes Gelee. Maissaft wird dabei mit Agar und Sojalecithin vermischt und aufgekocht. Die heisse Masse wird mit dem Rahmbläser aufgeschäumt und in Form gegossen. Dann lässt man sie im Kühlschrank fest werden. «Was herauskommt, ist ein leichter, feuchter Biskuitteig, der auch für Allergiker oder Veganer geeignet ist und sich auf unendlich viele Arten einsetzen lässt», so Eduard Xatruch. Statt Maissaft liessen sich Gemüse- und Pilzbrühe oder auch süsse Basen nutzen. Ausserdem spielte das Team im vergangenen Jahr mit der Nixtamalisation, die traditionell in Mexiko für die Behandlung von Mais verwendet wird. In Barcelona nutzen die «Disfrutar»-Köche die Technik, um Coulants mit flüssigem Kern herzustellen. Ein Gelee aus Mandelmasse mit Zucker und Pektin wird dabei zunächst gefroren und dann in eine Wasser-Kalk-Lösung gelegt. So bildet sich eine feine Membran. Wird der Coulant dann wieder erwärmt, schmilzt das Pektin in der Mitte und ein flüssiger Kern entsteht. «Auch hier können wir verschiedenste Geschmäcke kreieren», so Xatruch. «Himbeere, Mango, aber auch Roquefort und Spinat.»
(Alice Guldimann)