Würde Adolph Knigge heute noch leben, gälte wohl noch immer Ladies first, trotz Gleichberechtigung. Andere seiner Benimm-Regeln sind Schnee von gestern.
«Die Reihenfolge derer, denen man den Vortritt lässt oder die man am Tisch zuerst bedient, unterscheidet sich in vier Themenbereichen: Rang, Ort, Alter und Geschlecht», sagt Zita Langenstein, Butleresse und Leiterin Weiterbildung bei Gastrosuisse.
Beim Rang gebe zum Beispiel der Vorgesetzte zuerst die Hand, dem Kunden werde die Türe geöffnet «und zwar beides unabhängig von Gender und Alter», so Zita Langenstein. Sei der Rang nicht gegeben, übernehme die Person des Ortes die Leitung. Das sei zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Mitarbeitender den Vorgesetzten nach Hause zum Essen einlade. «Hier ist es der Mitarbeitende, der zuerst das Glas erhebt», weiss Zita Langenstein.
Auch die Redewendung «Alter vor Schönheit» hat nach wie vor Gültigkeit. «Allerdings würde ich es eher Alter vor Frauen nennen. Der ältere Herr bietet der Frau die Hand zur Begrüssung an.» An vierter Stelle kommt das Geschlecht. Wie das umzusetzen ist, hängt jedoch stark von der Situation ab. Denn inwieweit sich jemand mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifiziert, ist nicht immer auf Anhieb zu erkennen. Zita Langenstein sagt: «Hier sind die Themen damit auch veränderbar. In Sachen Gender passiert viel.»
Eine, die sich ebenfalls seit vielen Jahren mit Benimm-Regeln und richtigen Umgangsformen befasst, ist Susanne Abplanalp mit ihrer Firma Knigge Today in Thalwil/ZH. Seit 2007 berät sie Unternehmen und hält Seminare zu Themen wie Umgangsformen und Sozialkompetenz. Vor ihrer Selbständigkeit arbeitete sie über 25 Jahre als Marketingfachfrau in verschiedenen Firmen. Dabei sei ihr aufgefallen, dass Sozialkompetenz oft unter- und Fachkompetenz überbewertet werde.
«Ein Kunde oder Gast kann nicht immer sofort abschätzen, ob jemand fachlich kompetent ist. Ob er oder sie freundlich ist, hingegen schon», sagt sie. Es sei Knigge in seinem 1988 veröffentlichten Buch auch nicht um das starre Befolgen von Regeln gegangen, sondern um den Umgang der Menschen miteinander. Nichtsdestotrotz schadet es nicht, Knigge und seine Benimm-Regeln zu kennen, auch wenn nicht mehr alle angewandt werden.
Am Tisch etwa sind Zahnstocher mittlerweile tabu und auch angestossen wird nicht mehr. «Stattdessen wird das Glas erhoben», sagt Abplanalp. Das Messer wiederum dürfe heutzutage auch für den Salat verwendet werden.
Auch für die Mitarbeitenden gibt es einiges zu beachten. «Sie sollten fragen, wer den Wein probieren möchte. Bei Geschäftsessen ist der Gast des Kunden zuerst zu bedienen und die Rechnung wird dem Kunden gebracht.» Kürzlich habe sie von einem Kellner erfahren, der zwei weisse Ersatzhemden parat habe. Für den Fall, dass sich ein Gast beim Mittagessen bekleckere. «Ein Service, den man nie vergisst», hält Abplanalp fest.
Werden an einem Tisch heikle Themen besprochen, rät Zita Langenstein zu Diskretion. «Einschenken sollte man dann, wenn es gerade passt. Die Gespräche jedoch nicht unterbrechen.» Wenn aufgrund eines Streites die Stimmung eines Anlasses oder gar im Restaurant gefährdet sei, sei es wichtig, dass der Chef sich der Situation annehme. In Hinblick auf Umgangsformen sieht Langenstein auch die Gäste in der Pflicht. «Sie dürfen wieder lernen mitzumachen und zum Beispiel kurz stehenzubleiben, wenn die Türe aufgemacht wird.»
(Désirée Klarer)