Über 137 000 Menschen in der Schweiz können sich nicht jeden Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten. Was können Gastronomen tun, um zu helfen?
Jeder Fünfzehnte in der Schweiz ist von Armut betroffen. Diese Menschen haben tagtäglich mit unterschiedlichen existenziellen Problemen zu kämpfen. «Wie kann ich meine Rechnungen zahlen?», «Habe ich heute Nacht ein Dach über dem Kopf?», «Kann ich meinem Kind ein Geschenk zum Geburtstag kaufen?» sind Fragen, die sie umtreiben. Über 137 000 Menschen sind nicht in der Lage, sich regelmässig eine vollwertige Mahlzeit zu leisten. Dabei sollte jeder ein Recht auf gutes Essen haben.
Mit kleinen Gesten haben Gastronomen die Möglichkeit, sich für diese Menschen einzusetzen. Auch wenn es nur eine warme Mahlzeit ist. Denn für Armutsbetroffene ist dieser Moment etwas ganz Besonderes. Es sättigt sie nicht nur, es gibt ihnen ein Stück Selbstwert zurück.
Drei beeindruckende Geschichten erzählen von gastronomischen Projekten, die keinen Unterschied zwischen Arm und Reich machen: Es ist ein Wirt, der täglich Obdachlose und Bedürftige in seinem Restaurant begrüsst und ihnen Gerichte umsonst anbietet. Es ist eine Stiftung, die Gastronomen den Rücken stärkt und die Essenskosten für Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, übernimmt. Und es ist ein Koch, der von der Sternegastronomie in ein Hilfswerk wechselte, um für benachteiligte Menschen mit körperlichen und psychischen Erkrankungen zu kochen.
Für Gastronomen gibt es viele Wege, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu unterstützen. Wahrscheinlich lösen sie damit nicht das Kernproblem, doch sie geben den Betroffenen ein kleines Stück Lebensfreude zurück, die sich dann auch auf sie selbst überträgt.
«Liebe Gäste, wenn Sie mal Hunger haben und kein Geld, dann können Sie hier trotzdem essen und später zahlen. Wenn Sie gar nicht bezahlen, ist es auch nicht schlimm. Denn niemand soll hungern müssen.» Das steht auf einem Schild an der Eingangstür der <link http: www.restaurante-toscana.ch>Pizzeria Toscana in Greifensee/ZH. Seit Mai dieses Jahres gibt der Wirt Gino Ramadani gratis Essen an Bedürftige ab. Mehr als 1200 Gerichte haben so schon Menschen satt gemacht, die sich sonst kein gutes Essen leisten können.
«Die Idee kam von meinem Onkel», erzählt Ramadani. «Er führt ein Restaurant in Berlin. An einem Abend kam ein Obdachloser in das Lokal und fragte freundlich, ob er eventuell Reste bekommen könnte.» Dieser Vorfall und die Dankbarkeit des Gastes berührten den Wirt und nun bietet er schon seit über zwei Jahren kostenloses Essen an. Auch Ramadani erinnert sich an einen Moment, der ihn beeinflusste: Eine Familie mit drei Kindern war Gast im Lokal. Als die Kinder um ein Dessert baten, konnte es sich der Vater nicht leisten. Ramadani hörte sich die Familiengeschichte an und übernahm daraufhin die gesamte Rechnung. «Dann nahm ich den Zettel zur Hand und schrieb auf, dass wir Bedürftigen oder Obdachlosen Essen schenken, so viel sie wollen», erinnert sich Ramadani.
Jeden Tag sind Menschen aus schwierigen Verhältnissen im Lokal, sie kommen von überall aus der Schweiz. «Man muss mir keinen Ausweis zeigen oder auf irgendeine Art beweisen, dass man bedürftig ist. Es ist ein Gefühl und ich glaube den Menschen.»
Seit Ramadani das Lokal vor acht Jahren übernommen hat, läuft es sehr gut. Anfänglich machte die Differenz nicht viel aus, doch mit der Zeit wurde es knapp. Viele hörten von der Aktion und spendeten Geld. Daraufhin richtete Ramadani ein Spendenkonto ein und plant, die Aktion bis Ende des Jahres fortzuführen. «Ich würde gern weiterhelfen und fände es schön, wenn mehr Gastronomen solche Angebote hätten».
Als Privatperson ein derartiges Angebot zu lancieren ist mutig. Eine Organisation, die Gastronomen bei solchen Projekten den Rücken stärkt, ist die SV Stiftung. Im Januar dieses Jahres lancierte sie das Programm «Bon Lieu». Sozialhilfebezüger, Kulturlegi-Nutzer oder Familien, die unter dem Existenzminimum leben, können in teilnehmenden Restaurants zu einem Viertel des Originalpreises speisen. Den Rest übernimmt die SV Stiftung. Für die Restaurants ist der Aufwand minim – sie müssen lediglich einmal im Monat die Abrechnungen an die Caritas schicken, die das Projekt koordiniert. Um am Programm teilzunehmen, muss das Restaurant jedoch auch eine soziale Verankerung besitzen und Arbeitsintegrationsmassnahmen für Menschen anbieten, die wieder in das Berufsleben einsteigen oder Lehrlinge annehmen, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen.
Seit Januar wurden bereits über 1600 Gutscheine ausgestellt, die in zehn verschiedenen Restaurants in der ganzen Schweiz eingelöst werden können. Darunter Lokale wie das Viadukt Zürich, Quai 4 Luzern, Parterre One Basel oder die Brasserie Eiger in Bern.
«Bon Lieu» verschreibt sich dem Grundsatz, dass gutes Essen für alle unabhängig vom Einkommen gewährleistet sein muss. «Essen geht über die Abdeckung von Grundbedürfnissen hinaus und beinhaltet wichtige soziale Komponenten», erklärt Beatrice Conrad von der SV Stiftung. Wenn Betroffene Teil der Gesellschaft sein können und ihre Probleme für einen Moment ausblenden, wirkt sich das positiv auf ihren Selbstwert aus und gibt ihnen Bestätigung, was längerfristig Gesundheitskosten senkt, betont Isabelle Nold, die bei der Caritas das Projekt koordiniert. «Einmal rief mich ein alleinerziehender Vater an und war unglaublich glücklich, dass er seine Kinder am Geburtstag ins Restaurant einladen konnte», erinnert sich Nold. (Weitere Informationen unter <link http: www.bon-lieu.ch>www.bon-lieu.ch)
«Die Menschen sind bedürftig – aber was hat das mit Essen zu tun? Ist meine Küche dann weniger sauber? Oder gebe ich mir weniger Mühe? Nein», erzählt Christian Schneider. «Die Patienten sind meine Gäste. Für mich macht es keinen Unterschied, dass sie eine Krankheit haben.»
14 Jahre lang war er Koch im Fünfsternehotel Dolder Grand in Zürich. Er war einer von über 60 Küchenangestellten. Heute kocht er nun schon seit über 15 Jahren im «Sune-Egge» Zürich, einem Akutspital der Sozialwerke Pfarrer Sieber für sozial benachteiligte Menschen mit körperlichen und psychischen Erkrankungen. Es ist ein kleines Team – er selbst als Küchenchef, ein gelernter Koch und zwei Hilfsköche. Und das schätzt er besonders an seiner Arbeit. «Hier sind alle füreinander da und pflegen den persönlichen Kontakt. Ich bin mitten im Geschehen und bekomme Reaktionen auf mein Essen. Die Leute geizen nicht mit Komplimenten und zeigen ihre Dankbarkeit für meine Leistung», erzählt der 54-Jährige.
Schneider hat vor 15 Jahren nicht nur die gesamte Küche aufgebaut, sondern er ist es auch, der die Küche putzt, die Böden wischt und die Buchhaltung macht. Er hat sich ein Netzwerk an Händlern aufgebaut, die ihm Sonderkonditionen gewähren. Solche, die ihm gute Preise machen oder reduzierte Produkte zurücklegen. «Die Küche hat sich grundsätzlich nicht verändert. Nur die Mittel. Wir leben von Spenden und ich schätze die Produkte, die wir haben, umso mehr. Hier wird nichts verschwendet», sagt Schneider. «Wenn die Peperoni einen kleinen Fleck hat, hätte man sie früher weggeworfen oder höchstens für das Personal gebraucht. Ich hingegen sehe immer noch die Peperoni und nicht den Fleck.»
Er hat gelernt, aus einfachen Produkten tolle Gerichte zu kreieren. Gleichzeitig wird in der Küche fast alles selbst gemacht. Linzer Torte, marinierte Forelle, Kürbisknöpfli oder Polenta aus dem Ofen, frische Saucen und Chutneys – Schneider versucht nicht nur handgemacht, sondern auch saisonal zu kochen. Täglich gibt es ein grosses Salatbuffet und neben dem Fleisch-Menü auch vegetarische Angebote.
Für etwa 70 Personen kocht Schneider mit seinem Team täglich am Mittag und am Abend. Zudem beliefert er auch Aussenstationen anderer sozialer Hilfswerke.
Zurück in die Spitzengastronomie möchte er jedoch nicht. Das Soziale und der Zusammenhalt im kleinen Team sind hier grossartig. «Klar wäre es schön, manchmal Langusten zu verarbeiten oder feines Lammfleisch zuzubereiten, doch man braucht mich hier und ich finde meine Arbeit sinnvoll.»
(Anna Shemyakova)
Im Berner Lokal bietet der Wirt immer sonntags das «Füfliber-Menü» an. Man kann auch selbst mitgebrachtes Essen wärmen. Wenn man knapp bei Kasse ist, werden Sandwiches gratis verteilt.
«Wirte könnten günstigere Menüs für Kulturlegi- Nutzer anbieten oder einen Solidaritätsbeitrag von Gästen einfordern.»
Isabelle Nold, Caritas
Gäste können in regulären Cafés neben ihrem eigenen Kaffee einen zweiten bezahlen. Bedürftige erhalten ihren Kaffee dann umsonst.
<link http: www.vereinsurprise.ch cafesurprise>www.vereinsurprise.ch/cafesurprise
Viele religiöse und soziale Organisationen machen sich für das Wohl von Bedürftigen stark. Im Café Yucca, betrieben von der Stadtmission Zürich, gibt es gratis Suppe. Die Heilsarmee bietet vergünstigte Menüs an. Das Kulturhaus Helferei organisiert in Zürich am 24. Dezember eine kostenlose Weihnachts-Tafel für 300 Personen.