Gründe, warum so spannende und lebendige Branchen wie das Gastgewerbe und die Hotellerie einen Fachkräftemangel erleben, gibt es viele. Zur Lösung des Problems braucht es vor allem Flexibilität. Von allen Beteiligten.
Es ist wie verhext. Jedes Jahr beginnen über 8000 Jugendliche eine gastgewerbliche Grundbildung. Ganz abgesehen von den Absolventen einer Hotelhandelsschule, einer Hotelfachschule oder einer Berufsprüfung. Und dennoch herrscht in der Gastronomie und der Hotellerie ein Mangel an qualifiziertem Fachpersonal. Gleichzeitig weist das Gastgewerbe seit Jahren eine der höchsten Arbeitslosenquoten in der Schweizer Wirtschaft aus. Wie kann das sein? Gibt es den Fachkräftemangel wirklich? Oder ist er das Resultat einer verschobenen Wahrnehmung oder einer falsch umgesetzten Mitarbeiterpolitik? Und wenn es ihn gibt, was kann man gegen den Mangel an qualifizierten Fachkräften tun? Ist das ein Problem, das nur die Arbeitgeber betrifft, oder sollten auch die Arbeitnehmenden und ihre Berufsverbände in eigenem Interesse stärker an Lösungen mitwirken?
Diese und weitere Fragen werden die Branche Hotellerie Gastronomie Tourismus in der nächsten Zukunft intensiv beschäftigen. Deshalb wird auch die Hotellerie Gastronomie Zeitung das Thema Fachkräftemangel im Rahmen einer losen Reihe vertieft behandeln. Schliesslich geht es nicht bloss um ein paar vakante Arbeitsstellen, sondern um die Zukunft eines der wichtigsten Wirtschaftszweige unseres Landes.
Im weltweit boomenden Tourismusmarkt kann die Hochpreisdestination Schweiz den Mitbewerbern nur mit hochstehendem Service die Stirn bieten. Darin sind sich die Fachleute aus der Tourismusforschung wie auch die führenden Branchenvertreter aus Hotellerie und Gastronomie einig. Erste Massnahmen sind bereits getroffen worden und werden in der Praxis auch erfolgreich umgesetzt.
Trau keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast. Dieses Bonmot stellt die Korrektheit von Erhebungen in Frage. Es soll von Sir Winston Churchill stammen. Doch selbst das ist nicht erwiesen. Sicher hingegen ist, dass Erhebungen nicht immer die ganze Wahrheit zeigen. Dennoch liefern Statistiken, Umfragen und Analysen wichtiges Basismaterial sowie Hinweise auf eine zukünftige Entwicklung. Das gilt auch für die Arbeitsmarktanalyse «Fachkräftemangel in der Schweiz – Indikatorensystem zur Beurteilung der Fachkräftenachfrage».
Herausgeberin der Arbeitsmarktanalyse ist das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco. Das Zahlenmaterial stammt aus dem Jahr 2016. Untersucht wurden 36 Berufsfelder mit insgesamt rund 380 Berufen. Darunter auch das Gastgewerbe. Gemäss Seco besteht bei den Gastgewerbeberufen kein erhöhter Fachkräftebedarf. Und dies, obschon viele Wirte und Hoteliers sowie deren Branchenverbände einen klaren Mangel an qualifizierten Fachkräften feststellen. Wie kann das sein?
Um zu einer Einschätzung zu gelangen, hat das Seco verschiedene Indikatoren berücksichtigt wie beispielsweise die Quote der offenen Stellen, die Zuwanderungsquote und die Arbeitslosenquote. Letztere liegt im Gastgewerbe mehr als doppelt so hoch wie in anderen Branchen. Für die Statistik sieht es deshalb so aus, als gäbe es mehr einsetzbare Angestellte als freie Arbeitsplätze. Doch dieser Eindruck täuscht.
Die hohe Arbeitslosenquote hat nämlich noch andere Gründe. So gelten Saisonangestellte in der Zwischensaison als arbeitslos, selbst wenn sie den Vertrag für die nächste Saison schon in der Tasche haben. Ein weiterer Grund ist, dass viele der als arbeitslos gemeldeten Gastgewerbler ursprünglich gar nicht aus dieser Branche stammen. Weil sie in ihrem erlernten Beruf keinen Job mehr finden, versuchen sie ihr Glück im Gastgewerbe. Scheitern diese Angestellten, werden sie in der Arbeitslosenstatistik nicht unter ihrem erlernten Beruf erfasst, sondern unter ihrer letzten bezahlten Tätigkeit. Und die war dann eben im Gastgewerbe. Dieses Vorgehen verfälscht das Bild und erweckt den Eindruck, dass genügend einheimische Mitarbeitende auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. In Wahrheit fehlt es aber an allen Ecken und Enden an qualifizierten Arbeitnehmern.
Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative erschwert die Situation weiter, da die Arbeitgeber nicht mehr so frei qualifizierte Angestellte im Ausland anwerben können wie auch schon.
Ein weiterer Grund, weshalb dem Gastgewerbe je länger je mehr Fachkräfte fehlen, liegt in der demographischen Entwicklung. Wegen der geburtenschwachen Jahrgänge steht das Gastgewerbe bei der Suche nach Berufsnachwuchs in harter Konkurrenz mit anderen Branchen. Hinzu kommt der Trend, dass Eltern ihren Sprösslingen von Berufslehren abraten und sie lieber einen akademischen Weg einschlagen lassen. Das führt dazu, dass die Anzahl der Lernenden im Gastgewerbe seit Jahren rückläufig ist. Ausserdem wird im Schnitt jedes dritte Lehrverhältnis vorzeitig aufgelöst. Von den Jugendlichen, die ihre Grundbildung durchziehen, sind nur 30 Prozent so begeistert von ihrem Beruf, dass sie der Branche auch nach der Lehre treu bleiben. Weitere 24 Prozent werden wahrscheinlich in der Branche bleiben, doch fast jeder zweite Lernende will das Gastgewerbe sofort nach dem Abschluss der Grundbildung verlassen. Unter anderem wegen der Arbeitszeiten und der im Vergleich mit anderen Branchen eher tiefen Mindestlöhne.
An der Tatsache, dass Gastgewerbler dann am meisten zu tun haben, wenn andere Mittagspause, Feierabend oder Ferien geniessen, lässt sich nichts ändern. Und da die Gehälter bereits heute weit über 40 Prozent der Betriebskosten ausmachen, ist in Sachen Lohn kein grosser Handlungsspielraum mehr. Aber es gibt dennoch verschiedene Möglichkeiten, wie ein Betrieb zum eigenen Vorteil für seine Mitarbeitenden ein langfristig interessantes Arbeitsumfeld schaffen kann.
Ein Hotel, das einige solcher Massnahmen zur Minderung des Fachkräftemangels umgesetzt hat, ist das Hotel Schweizerhof Lenzerheide. Andreas Züllig, Inhaber, Gastgeber sowie Präsident Hotelleriesuisse, ist überzeugt: «Nur mit Flexibilität und Offenheit kann man dem Fachkräftemangel beikommen.» Die Bereitschaft, ausserhalb der gewohnten Norm zu denken und alte Zöpfe abzuschneiden, erfordere allerdings ein bisschen Mut. Als Beispiel nennt Züllig das neue Gastronomiekonzept, welches in seinem Hotel auf die Wintersaison 2017/18 eingeführt wurde.
«Wir haben das Café komplett neu gestaltet. Je nach Tageszeit gibt es hier ein Buffet mit Frühstück, Mittagessen, Kuchen oder Tapas», zählt der Hoteldirektor auf. Die klassischen Mittagsmenüs hingegen sind abgeschafft und das Restaurant, in dem diese bis anhin serviert wurden, ist nur noch abends geöffnet. Für die Restaurationsfachleute entfällt nun das zeitaufwendige Ein- und Umdecken von Mittags- auf Abendservice. «Überraschenderweise hatten die Mitarbeitenden mit dem Abschaffen der Mittagsmenüs mehr Mühe als die Direktion», weiss Andreas Züllig. Die Mitarbeitenden befürchteten, Stammgäste zu verärgern oder gar zu verlieren. «Dieses Risiko sind wir bewusst eingegangen. Wir haben tatsächlich den einen oder anderen Gast verloren. Aber schon jetzt zeigt sich, dass wir im Gegenzug mehr neue Gäste gewinnen und gleichzeitig Arbeitsaufwand verringern und somit Kosten senken konnten.»
Nicht nur an der Gästefront hat das neue Konzept Veränderungen ausgelöst. «Durch den Verzicht auf die Mittagsmenüs konnten wir ein neues Arbeitszeitmodell für die Köche einführen und die Zimmerstunde abschaffen.» Die Köche arbeiten nun in zwei Schichten. Die erste dauert von 9 bis 16, die zweite von 14 bis 22 Uhr.
Eine Mitarbeiterin, der diese Zeiten sehr entgegenkommen, ist Flurina Burger. Die Chef pâtissière ist seit sieben Jahren im Hotel Schweizerhof Lenzerheide. Schon seit der Geburt ihres ersten Kindes arbeitet sie in einem 40 Prozent-Teilzeitpensum. Sie ist jeweils montags und dienstags von 14 bis 23 Uhr im Einsatz. «Durch das neue Arbeitszeitmodell kann ich Beruf und Kinder besser vereinbaren», sagt Flurina Burger. Für die zweifache Mutter ist es ideal, dass sie ohne Zimmerstunde durcharbeiten kann und das immer an den gleichen Tagen. Das erleichtere ihr das Planen der Kinderbetreuung. Kommen die Kinder ins Schulalter, kann Flurina Burger wie gehabt weiterarbeiten. Die Wochenenden hat sie ja bereits heute immer frei. Dies übrigens nicht auf eigenen Wunsch, sondern weil der Pâtissier, mit dem sich Flurina Burger die Stelle teilt, zwei fixe Tage unter der Woche freihaben wollte.
Noch individueller kann Sandra Bislin ihren Arbeitstag gestalten. Auch die Sales-&-Marketing-Mitarbeiterin ist zweifache Mutter, langjährige Angestellte und hat ein 40-Prozent-Pensum. Allerdings kann Sandra Bislin selber entscheiden, ob sie zur Erledigung ihrer Arbeiten ins Hotel Schweizerhof kommt oder von zu Hause aus arbeitet. «Ich kann die Hotelwebseite pflegen, während meine Kinder schlafen», erklärt die junge Mutter. Da sie beim Aufbau der Webseite beteiligt war, schätzt sie es sehr, dieses Projekt trotz Mutterschaft und reduziertem Pensum weiterbetreuen zu können. Ihr «berufliches Baby» abzugeben, wäre ihr schwergefallen.
Für Sandra Bislin ist jetzt schon klar, dass sie ihr Pensum und ihre Präsenz im Hotel Schweizerhof Lenzerheide wieder erhöhen möchte, sobald ihre Kinder grösser sind. Andreas Züllig dürfte diese Info freuen. «Wir wollen gute Mitarbeitende unbedingt bei uns behalten. Dafür sind wir gerne bereit, individuelle Lösungen zu finden.» Mit den Bemühungen um die jungen Mütter folgt das Hotel einer der Empfehlungen, die das Seco in seiner Arbeitsmarktanalyse gibt. Als Massnahme gegen den Fachkräftemangel wird dort geraten, Arbeitsmodelle zu entwickeln, die Familien und älteren Mitarbeitenden entgegenkommen. Individuelle Lösungen statt starrer Strukturen sollte das Motto lauten.
Um massgeschneiderte Lösungen zu finden, ist ein grosses Mass an Offenheit und Flexibilität nötig. Nicht nur seitens der Arbeitgeber. «Auch die Arbeitnehmenden müssen flexibler und offener für neue Arbeitszeitmodelle, Teilzeitarbeit und Weiterbildung werden», findet Andreas Züllig. Er erwartet von seinen Angestellten die Bereitschaft sich weiterzubilden.
Im Hotel Schweizerhof Lenzerheide finden daher regelmässig Schulungen für Mitarbeitende auf allen Stufen statt. Und zwar für Saisonangestellte genauso wie für Ganzjahresmitarbeitende. Diese Förderung sei ein Zeichen von Wertschätzung und Anerkennung, sagt der Hotelier.
Als Präsident von Hotelleriesuisse erinnerte Andreas Züllig die Mitglieder an der letzten Generalversammlung in Thun daran, wie wichtig eine wertschätzende Führungskultur ist, um das Abwandern von Fachkräften zu verhindern. «Als Chef muss man als Vorbild vorangehen. Wer das nicht begreift, hat zukünftig keine Chancen mehr auf dem Markt.»
Im «Schweizerhof Lenzerheide» fängt die Wertschätzung bereits während des Auswahlverfahrens an. «Wer für eine Anstellung in die engere Wahl kommt, wird zum Schnuppertag mit Probearbeiten eingeladen. Die Übernachtung bei uns im Hotel und das Essen im Restaurant offerieren wir», sagt Andreas Züllig.
Der potenzielle neue Angestellte erhält so die Gelegenheit, den Betrieb als Arbeitnehmer wie auch als Gast kennenzulernen. Er kann sich mit dem Arbeitsumfeld, den Aufgaben, den Kollegen, dem Vorgesetzten und dem herrschenden Spirit im Haus vertraut machen. Gleichzeitig hat das Hotel die Gelegenheit, den möglichen neuen Mitarbeiter in Aktion zu erleben. Bei gegenseitigem Gefallen steht einer langen Partnerschaft nichts im Weg.
(Riccarda Frei)