Inklusion im Gastgewerbe: Eine Chance für alle

Bei der Arbeitsintegration von Menschen mit Behinderung gibt es im Gastgewerbe noch viel Potenzial. Von mehr Offenheit könnten beide Seiten profitieren.

  • Die Mitarbeitenden mit Handicap arbeiten im Martigny Boutique Hotel in fixen Teams und werden im Alltag von Arbeitsagogen unterstützt. (ZVG)
  • Die Cornets in ihre Verpackung zuwickeln, ist eine der Aufgaben, die bei Gasparini noch von Hand erledigt wird, um Menschen mit Beeinträchtigung eine Arbeit zu ermöglichen.
  • Die Bio-Bäckerei Neuhof bietet insgesamt sieben Ausbildungsplätze in der Produktion. Aktuell sind vier davon besetzt.
  • Die Lernenden von La Capriola müssen ein gewisses Mass an Reife, Stabilität und Selbständigkeit mitbringen. Ab dem ersten Arbeitstag werden sie in ihr Team integriert.
  • Tobias Fritschi ist an der Berner Fachhochschule als Leiter des Instituts für Soziale Sicherheit und Sozialpolitik tätig.
  • Matthias von Bergen ist Dozent an der ­Berner Fachhochschule mit Schwerpunkt Soziale Organisationen und Sozialwirtschaft.

Arbeiten ist mehr als nur Geld verdienen. Arbeit gibt einen Sinn, sie bedeutet Wertschätzung und Anerkennung. In der Schweiz wird Leistungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt grossgeschrieben. Dabei gehen Menschen vergessen, die nicht in dieses Schema passen: Menschen mit psychischen oder körperlichen Behinderungen.

Der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung hat der Schweiz in einem Bericht Anfang Jahr kein gutes Zeugnis ausgestellt. Er zeigte sich besorgt über die «Segregation» der Menschen mit Behinderungen auf dem geschützten Arbeitsmarkt. «Solange die Arbeitgebenden kaum angepasste Arbeits­stellen schaffen und es an Unter­stützungsangeboten fehlt, kann kein inklusiver Arbeitsmarkt entstehen», so der Schweizer Dach­verband Inclusion Handicap.

Junge Menschen mit Behinderungen wünschen sich heute vermehrt eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt und Austausch mit Menschen ohne Behinderung­. Das zeigen die Erfahrungen von ­Matthias von Bergen und Tobias Fritschi von der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit. Sie legen einen ihrer Forschungsschwerpunkte auf die berufliche und soziale Integration.

«Menschen mit Behinderung sollen wie alle anderen die Freiheit haben, sich für ihre Arbeit selbst zu entscheiden», sagt Tobias Fritschi. Eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt bedeute Selbstwirksamkeit, also die Überzeugung, Herausforderungen aus eigener Kraft bewältigen zu können.

«Im allgemeinen Arbeitsmarkt geht es um etwas», ergänzt Matthias von Bergen. Es werde dieselbe Qualität von allen Mitarbeitenden erwartet. «Das ist auch eine Wertschätzung für die Menschen.» Das Gastgewerbe eignet sich laut Fritschi und von Bergen gut für die berufliche Inklusion. «Die Branche ermöglicht nicht nur den Kontakt mit anderen ­Mitarbeitenden, sondern auch mit Gästen», so von Bergen. Diversität werde auf diese Weise gelebt und nach aussen sichtbar gemacht. Ein weiterer Vorteil sei, dass die Branche einen niederschwelligen Berufseinstieg ermöglicht.

Das Potenzial für die Integration von Menschen mit Behinderung im Gastgewerbe ist noch gross. Es brauche hier den Willen von Arbeitgebern, die es als ihren gesellschaftlichen Auftrag ansehen, die Diversität in der Ge­sellschaft abzubilden. Besonders wichtig sei dabei eine langfristige Perspektive, so Fritschi. «Es soll nicht darum gehen, kurzfristige Engpässe zu decken.»

Bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung sind Offenheit, Flexibilität und Mut zur Veränderung zentral, wie Gespräche mit den Experten aus der Praxis (siehe Texte rechts) und der Forschung zeigen. Die Betriebe müssen offen sein, mit Job-Coaches zusammenzuarbeiten und ihre betrieblichen Abläufe offenzulegen. Sie müssen flexibel sein, denn Menschen mit Beeinträchtigung sind teilweise nicht an jedem Tag gleich leistungsfähig. Für viele ist zudem ein konstantes Arbeitsumfeld mit fixen Ansprechpersonen und Arbeitsabläufen besonders wichtig.

«Ein Betrieb verändert sich, wenn er Menschen mit Behinderung beschäftigt», sagt Matthias von Bergen. Dessen müssen sich Arbeitgebende bewusst sein. Die Veränderung könne aber eine Chance für neue Konzepte und Innovationen sein. «Wenn die Branche bereit ist, Neues auszuprobieren, ist vieles möglich.»

Für Betriebe lohnt es sich laut Fritschi und von Bergen, sich in den organisatorischen Belangen zusammenzuschliessen und sich bei einer Fachorganisation mit entsprechendem Expertenwissen Unterstützung für den Einstieg und den Alltag zu holen. «Die Unternehmen müssen so nicht alles alleine stemmen.»

(Alice Guldimann)


Gelati Gasparini Helfende Hände

Die Glaces von Gelati Gasparini in Münchenstein/BL haben sich in der 70-jährigen Firmengeschichte schweizweit einen Namen gemacht. Neben den bekannten Zolli-Cornets und den zweifarbigen Stängel-Glacen produziert Gasparini auch für die Gastro­nomie und führt Aufträge für Drittkunden aus.

Weniger bekannt ist, dass Gasparini Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen Arbeitsplätze in der Glace-Produktion und im Kundendienst anbietet. «Dabei verzichten wir bewusst auf Automatisierung, um unseren Klienten ein möglichst vielseitiges Aufgabengebiet bieten zu können», sagt Marc Schaller, Leiter Gelati Gasparini. Handwerk steht beim Glace-Hersteller deshalb weiterhin an oberster Stelle.

Seit 20 Jahren gehört «Gasparini» zur GAW – Gesellschaft für Arbeit und Wohnen. Diese bietet Arbeits- und Wohnintegration für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in der Region Basel und umfasst Betriebe in den Bereichen Detailhandel, Gastronomie, Hauswirtschaft, Lebensmittelproduktion. In der Glace-Manufaktur von «Gasparini» arbeiten zehn Personen mit psychischer Beeinträchtigung und drei Lernende mit Lernschwäche.

Die Klienten haben ganz unterschiedliche Krankheitsbilder. Je nach Eignung, Produkt, Jahreszeit und Wetter führen sie im Rotationsprinzip unterschiedliche Arbeiten aus. Dabei geht es um das Einfüllen der Glacemasse in die Cornets, den Schokoladenüberzug oder das Verpacken der fertigen Produkte. «Gasparini» bietet auch berufliche Wiedereingliederung sowie Ausbildungsplätze an. Im September wurde die Arbeit von Gelati Gasparini mit dem Swiss Diversity Award in der Kategorie «Beeinträchtigung» ge­würdigt. «Eine tolle Wertschätzung für unsere Arbeit», freut sich Marc Schaller.

→ Zielgruppe: Menschen mit psychischer Beeinträchtigung; Angebot: begleitete Arbeitsplätze, Wiedereingliederung, Ausbildung. gasparini.ch


Martigny Boutique Hotel Der Mensch im Mittelpunkt

Im Martigny Boutique Hotel dreht sich die Welt etwas langsamer als in manch anderem Hotelbetrieb. Hier arbeiten 40 Menschen mit Behinderungen Seite an Seite mit 30 Fachkräften aus Gastronomie und Hotellerie. Das Hotel in der Walliser Gemeinde Martigny eröffnete im Jahr 2015 mit dem Ziel, Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz zu bieten.

Der Betrieb arbeitet mit der Walliser Stiftung Fovahm zusammen, die Arbeits- und Beschäftigungsstrukturen für Menschen mit Behinderung anbietet. Sie vermittelt die Mitarbeitenden und übernimmt die sozialpädagogische Betreuung. Jedes Team, sei es in der Küche, im Service, in der Hauswirtschaft oder Wäscherei, erhält zur Unterstützung einen Arbeitsagogen zur Seite gestellt. Das Hotel ist finanziell unabhängig, wie Geschäftsführer Mathias Munoz betont. «Wir haben an sieben Tagen geöffnet und bieten dieselben Dienstleistungen wie andere Hotels – zum selben Preis.»

Die Qualität und die Zufriedenheit der Gäste stehe an oberster Stelle. «Der einzige Punkt, bei dem wir Kompromisse machen, ist bei den Arbeitsplänen der Fovahm-Mitarbeitenden. Sie haben fixe Arbeitszeiten.»

Alle Mitarbeitenden mit Behinderung beziehen eine volle IV-Rente. Um den Betrieb finanzierbar zu machen, bezahlt das Hotel so viel an die Fovahm, wie es kosten würde, wenn eine Fachperson dieselbe Arbeit verrichtet. Munoz, der viele Jahre in der klassischen Hotellerie gearbeitet hat, ist vom Konzept vollends überzeugt. Mit der Digitalisierung könne es vorkommen, dass man heutzutage bei einem Hotelbesuch keinen einzigen Menschen antrifft. Im Inklusionsbetrieb sie das anders. «Unsere Mitarbeitenden sind stolz, hier zu arbeiten», so Munoz. «Sie strahlen Wärme aus und interagieren gerne mit den Gästen, brauchen dafür etwas mehr Zeit.» Dies bedeute sowohl für die Kundschaft als auch für die Mitarbeitenden eine neue, bereichernde Perspektive.

→ Zielgruppe: Menschen mit geistiger Behinderung und IV-Verfügung; Angebot: begleitete Arbeitsplätze.martigny-hotel.ch


Bio-Bäckerei Neuhof Jeder lernt in seinem eigenen Tempo

In der Bio-Bäckerei Neuhof in Schlieren/ZH dreht sich alles darum, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit individuellem Förderbedarf einen guten Start ins Berufsleben zu ermöglichen. Gemeinsam mit einem Team von Fachpersonen produzieren die Lernenden – momentan sind es deren vier – Brote, Kleingebäck, Feingebäck, Torten und Pâtisserie. Verkauft werden ihre Produkte im eigenen Laden und bei verschiedenen Detailhändlern. Die Bäckerei beliefert aber auch verschiedene Kaffees und Restaurants.

«Wir haben eine Verpflichtung als Gesellschaft, auch Menschen mit Beeinträchtigung einen Arbeitsplatz anzubieten», sagt Priska Furrer, die in der Bäckerei die Doppelrolle als Geschäftsführerin und Sozialpädagogin einnimmt. Aus dieser Haltung heraus macht der Betrieb vieles ­möglich und bietet den jungen Menschen eine praktische Ausbildung nach dem Branchenverband Insos, eine EBA- oder eine EFZ-Lehre an. Je nach der Geschichte der Lernenden variiert der Betreuungsaufwand. «In der praktischen Ausbildung können wir erst um 8 Uhr beginnen oder mit kleineren Pensen langsam in die Ausbildung starten», so Furrer. Viele der Lernenden haben eine Diagnose mit psychischen Krankheiten, Schizophrenie oder Autismus. «Wir schauen individuell, was machbar ist.»

Die Lernenden sind von Anfang an in die Bäckerei eingebunden. Bei der Zopfproduktion zum Beispiel stehen alle um denselben Tisch, Lernende und Ausbildner. Jeder arbeitet in seinem Tempo, mal schneller, mal langsamer. «Die Zeit muss auch da sein, Abläufe immer wieder zu erklären», sagt Priska Furrer. Die Herausforderung für die Ausbildnerinnen ist dabei, die Produkte rechtzeitig fertigzustellen. «Und auch die Qualität für unsere Kunden muss natürlich stimmen.»

Die Bio-Bäckerei Neuhof gehört zum Verein Axisbildung, ­einem Lehrbetriebsverbund, welcher Jugendlichen und jungen ­Erwachsenen mit Förderbedarf eine Berufsausbildung ermöglicht. Der Verein wurde unter anderem von Sozialunternehmer und Gastronom Patrick Honauer gegründet. Axisbildung vermittelt die Lernenden an die Betriebe und übernimmt die Koordination mit den Behörden.

→ Zielgruppe: Jugendliche und junge Erwachsene; Angebot: Ausbildung Stufe PrA, EBA, EFZ. baeckerei-neuhof.ch


Hotel Schweizerhof Luzern Begleitete Ausbildung im traditionellen Hotelbetrieb

In 175 Jahren Hotelgeschichte haben im «Schweizerhof Luzern» viele Lernende ihre Karriere gestartet. Seit 2011 ermöglicht der Traditionsbetrieb auch Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf eine Ausbildung. Dafür arbeitet das Hotel mit der Stiftung La Capriola zusammen. Deren Ausbildungskonzept ist ganzheitlich und umfasst neben der Lehre in ausgesuchten Partnerbetrieben in Luzern und Davos auch sozial­pädagogisch betreutes Wohnen. Ziel ist, dass die Lernenden ihr ­Arbeits- und Privatleben künftig selbständig gestalten können.

«Unsere Lernenden arbeiten vom ersten Tag an in ihren jeweiligen Teams mit», erklärt Reto Brunner, Ausbildungsleiter bei La Capriola. Er ist täglich in den Partnerbetrieben unterwegs, bei der Arbeitsplanung involviert und bei Problemen Ansprechpartner für die Abteilungsleitenden.

Der Grat zwischen Fördern und Überfordern sei in der Ausbildungssituation manchmal schmal, so Brunner. Dies insbesondere zum Lehrbeginn. «Die Lernenden haben die Möglichkeit, vor dem offiziellen Start der Ausbildung im Betrieb anzufangen», sagt der Ausbildungsleiter. «So können sie die Abläufe kennenlernen, bevor im August der Schulstress dazukommt.»

Aktuell sind vier Lernende über La Capriola im Hotel Schweizerhof in den Bereichen Küche, Service und Hauswirtschaft in der Lehre. «Sie machen die gleichen Arbeiten wie die anderen Lernenden», sagt Marjorie Bucher, Leiterin Hauswirtschaft. «Wir schauen aber auch darauf, wo die Stärken und Schwächen der Personen liegen.» Die anderen Mitarbeitenden sind über deren Unterstützungsbedarf informiert und wenn nötig auf die Krankheits­bilder sensibilisiert.

Gegen Ende der Ausbildung unterstützt La Capriola die Lernenden bei der Stellensuche und begleitet die jungen Berufsleute, sofern sie es wünschen, die ersten Monate am neuen Ort.

→ Zielgruppe: Jugendliche und junge Erwachsene mit IV-Verfügung; Angebot: Ausbildung Stufe PrA, EBA, EFZ. schweizerhof-luzern.ch / lacapriola.ch