Menschen mit körperlicher und psychischer Beeinträchtigung haben es im Arbeitsmarkt nicht leicht. Vier Betroffene erzählen von ihren Geschichten und wie sie sich zurück ins Leben arbeiteten.
Von einem Tag auf den anderen änderte sich alles. Werner Wagner war Koch in der psychiatrischen Klinik Pfäfers, er liebte seinen Job, sein Leben. Plötzlich, mit 43 Jahren – Schlaganfall. Halbseitig gelähmt und stark angeschlagen, verbrachte er ein Jahr in der Klinik und der Reha. Wie sollte es mit seinem Job weitergehen? Für immer IV-Bezüger zu sein, war für ihn keine Option.
Auch der 28-jährige Simon Wüst stand am Rand seines Lebens. Mit nur 20 Prozent Sehvermögen und psychisch stark belastet, erfuhr er eine Zurückweisung nach der anderen – beruflich wie auch privat. Familiäre Schwierigkeiten nagten an seiner Psyche, der ausgebildete Koch verlor seinen Job, war zwei Jahre lang arbeitssuchend.
Beide Männer wollten raus aus der Perspektivlosigkeit, wollten endlich eine Bestimmung im Leben. Doch eine Tür nach der anderen wurde vor ihnen verschlossen. Bis Patrick Schwendener ihnen nicht nur einen Job, sondern ein ganz neues Lebensgefühl zurückgab.
«Jeder hat eine Chance im Leben verdient. Und zwar nicht nur eine. Manchmal braucht es zwei oder drei», sagt Patrick Schwendener. Der Küchenchef der psychiatrischen Klinik in Pfäfers schafft Platz für diejenigen, die sonst nicht unterkommen würden. «In unserer Gesellschaft wird so viel gefordert. Körperlich oder psychisch Beeinträchtigte gehen völlig unter», erklärt Schwendener. So kam Werner Wagner nur ein Jahr nach seinem Schlaganfall ins Küchenteam zurück. Und auch Simon Wüst ist seit sieben Jahren in der Klinikküche tätig. «Für mich wäre es das Schlimmste gewesen, wenn ich nie wieder als Koch hätte arbeiten können. Das war immer mein Lichtblick, es hat mich zusammengehalten», erinnert sich Werner Wagner. Schritt für Schritt mobilisierte er die gelähmte Seite, kam vom Rollstuhl ins Stehen, dann ins Gehen. Das Sprechen war glücklicherweise kein Problem, doch die Feinmotorik in die Hände zurückzubringen, schien unmöglich. Das Kochen gab er dennoch nicht auf und kochte für seine Therapeutinnen. «Sie wollten, dass ich spezielle Schneidebrettchen verwende, an denen man mit einer Hand arbeiten kann, doch ich nahm sie nie. Der Kopf wollte schon immer mehr als die Hand. Ich bin ein Kämpfer», erzählt Wagner.
Und er kämpfte so hart, bis ihn der damalige Küchenchef im Jahr 1999 wieder ins Team holte. «Der erste Tag war witzig. Der Chef besorgte mir eine extra grosse Kartoffel – ich sollte sie schälen. Plötzlich gingen die Reflexe mit mir durch und ich warf sie nach hinten. Da merkten wir, dass ich lieber nur in der kalten Küche arbeiten sollte», erinnert sich Wagner. Nun passt er sich an, benutzt die kleineren Messer und arbeitet nicht mehr mit allzu vielen Schnitttechniken. Das Halten mit der linken Hand gestaltet sich schwierig, die Hektik und die Verbrühungsgefahr in der warmen Küche sind zu gross, er musste zurückstecken. 15 Prozent Arbeitsleistung erbringt er jetzt bei 50 Prozent Arbeitsaufwand. «Alles ist etwas langsamer geworden. Aber man muss schauen, dass man das Beste draus macht. Was bringt es mir, depressiv oder weinerlich zu sein?», sagt Wagner. Der Job hat ihm geholfen und Erfüllung gegeben. Trotzdem ist er froh, in drei Jahren in den verdienten Ruhestand zu gehen.
«Wunden heilen irgendwann, doch es braucht extrem viel Zeit. Als Simon Wüst hier ankam, war er in einem desolaten Zustand», erinnert sich Küchenchef Patrick Schwendener. Hunderte Bewerbungen hatte der junge Mann damals geschrieben. «Ich bin versauert, ich wollte einfach nur arbeiten», erinnert sich Wüst. Zusätzlich kämpfe er mit psychischen Problemen und befand sich in Therapie. «Ich war ein sehr aggressiver Mensch, als ich in der Küche anfing. Die stetige Zurückweisung im Leben und das Desinteresse an meiner Person hatten sich in extremer Wut geäussert», das wusste er selbst. Bei der Arbeit konnte er sich von den Problemen zu Hause ablenken und sich auf andere Sachen konzentrieren.
Patrick Schwendener ist bei der Arbeit nicht nur sein Chef, er ist Vertrauter. «Es ist wichtig, dass Simon seine Vergangenheit aufarbeitet. Wenn man ihm keine Chance gegeben hätte, hätte er es nicht verkraftet», sagt Schwendener. Es scheint, als versetze er sich beinahe in die Situation seiner Schützlinge. Und tatsächlich hatte Schwendener selbst mit schwierigen Kindheitserfahrungen zu kämpfen. «Meine Vergangenheit ist mir nicht geschenkt worden. Vielleicht kommt daher mein Helfersyndrom gegenüber diesen Menschen», vermutet der 47-Jährige.
Seine tägliche Arbeit erfordert Feingefühl und ganz viel Kraft, um «Gestrandete», wie er seine Schützlinge nennt, auf den richtigen Pfad zu bringen. «Es geht dabei gar nicht um ihre Leistung, sondern um Anerkennung. Betroffenen zu zeigen, dass sie wichtig sind, dass man sie braucht – darum geht es.» So kann auch Simon Wüst 60 Prozent in der Küche arbeiten, braucht dafür jedoch 100 Prozent Zeitaufwand. «Ich bin durch die Beeinträchtigung schon eher der Mann fürs Grobe», sagt Wüst schmunzelnd.
Es ist ein Glücksfall, wenn Personen nach einem Schicksalsschlag wieder in den ursprünglichen Beruf einsteigen können. Oft verschwindet diese Option jedoch, was die Existenzängste der sowieso schon Angeschlagenen noch verstärkt. Die Gastronomie ist eine Branche, die extrem viel Potenzial für Externe bietet. Sie ermöglicht einen Start in ein neues Leben. So wie bei Ivo Barbalic.
Der junge Mann führte ein Musterleben. Er studierte Philosophie und Geschichte, wechselte dann zu Jura. Nach dem Abschluss arbeitete er am Obergericht und in diversen Strafabteilungen – er war ein Karrieremann. Auf seinem Höhepunkt mit 38 Jahren machte sich seine Krankheit langsam bemerkbar. Kurze Zeit später brach er ein. Die Diagnose: paranoide Schizophrenie. «Ich erinnere mich noch, dass ich jeden Tag zum Flughafen gefahren bin. Ich kann mir selbst nicht erklären, wieso. Er hat mich magisch angezogen», erinnert sich der heute 55-Jährige. Barbalic hat eine Nahtoderfahrung, verliert den Job und wird in die Psychiatrie eingewiesen. Ein Jahr bleibt er dort. Danach zieht er weiter in ein betreutes Wohnheim. «Das war eine schreckliche Zeit. Es war schockierend, all die kaputten Menschen zu sehen. Alle ohne Orientierung. Da wusste ich: Ich muss raus und mein Leben wieder in den Griff kriegen», erinnert sich Barbalic. Einige Jahre arbeitet er im beruflichen Trainingszentrum, bis er 2009 am Restaurant Limmathof in Zürich vorbeiläuft. «Ich habe einfach gespürt, dass es das Richtige ist.» Er sieht, dass der Betrieb zur Stiftung Arbeitskette gehört, die psychisch und körperlich Beeinträchtigte integriert. Man möchte fast meinen, es sei Schicksal gewesen. Einige Monate später fängt er dort im Service an. «Zum ersten Mal konnte ich etwas Praktisches machen, das liebte ich. Den Kontakt zu Menschen, die konkreten Aufgaben. Ich wurde gebraucht. Schritt für Schritt konnte ich den Ballast abarbeiten und war praktisch symptomfrei», freut sich Barbalic. Motiviert betreute er Gäste, und ihr Feedback beflügelte ihn innerlich. «Diese Einstellung ist unglaublich. Sogar für Menschen im ersten Arbeitsmarkt ist das nicht selbstverständlich», freut sich Thomas Unger. Er ist Geschäftsleiter im Restaurant Stürmeierhuus in Schlieren, in dem Ivo Barbalic momentan arbeitet, und zusätzlich Mitarbeiter der Stiftung Arbeitskette. «Ivo kann man sehr viel Verantwortung übergeben, er hat eine tolle Ausstrahlung und entlastet uns sehr. Teilweise hat er sogar die Serviceleitung übernommen», erzählt Unger.
Motiviert und beflügelt ergriff Barbalic im vergangenen Jahr die Chance, aus dem geschützten Rahmen des «Stürmeierhuus» in den ersten Arbeitsmarkt einzusteigen. Er bekam einen Praktikumsplatz im Restaurant Opera in Zürich. Doch plötzlich kam alles zusammen: Im Restaurant klappte es nicht, kurze Zeit später brach er sich den Fuss und erlitt daraufhin vor einem halben Jahr einen psychotischen Rückfall. «Ich war so euphorisch über die Perspektive. Die Zurückweisung habe ich nicht ertragen.» Momentan arbeitet er wieder zwei Tage pro Woche im «Stürmeierhuus», jedoch motiviert, es nochmals im ersten Arbeitsmarkt zu versuchen. «Wenn man Menschen keine Chance gibt, sich zu behaupten, werden sie sich nicht weiterentwickeln. Es ist schade, dass man Menschen mit einer psychischen Symptomatik nicht ernst nimmt», kritisiert Barbalic.
Auch Baftir Isufi hatte mit Vorurteilen zu kämpfen. Der Kosovare immigrierte vor 14 Jahren in die Schweiz und hatte mit Lernschwierigkeiten zu kämpfen. Als Lagerist und Lieferant hat er es versucht, wurde überall abgewiesen. Nun absolviert er im «Stürmeierhuus» eine Service- lehre im geschützten Rahmen und hofft, danach in den Arbeitsmarkt einsteigen zu können.
19 Angestellte arbeiten im Restaurant, acht von ihnen sind über Integrationsmassnahmen in den Betrieb gestossen. Was bedeutet das für den Arbeitgeber? «Gross ist der Unterschied nicht. Die Leiden und die Vergesslichkeiten sind hier einfach präsenter», erzählt Thomas Unger, «lediglich bei der Diensteinteilung ist es chaotisch. Der eine kann wegen der Medikamente nur am Abend arbeiten, der andere nur am Mittag. Die einen arbeiten 60, 70 oder 80 Prozent auf vier Tage, manche auf fünf Tage verteilt. Der Dienstplan ist ein Tetrisspiel. Doch es lohnt sich. Diese Menschen brauchen unsere Unterstützung.»
(Anna Shemyakova)